Mehr als 35.000 Jahre alt ist diese handgemachte Flöte, die ein Forschungsteam um Nicholas Conard bei Schelklingen (Schwäbische Alb) in Süddeutschland fand.
Foto: AP / Daniel Maurer

Wer an die Steinzeit denkt, stellt sich meist primitive Höhlenmenschen vor, die wenig mehr als Jagen und Fortpflanzung im Kopf hatten. Doch nicht erst ab dem Beginn der Sesshaftigkeit, sondern schon früher – vor 40.000 Jahren – existierten Menschen, die sich sogar in der heutigen Zeit zurechtfinden könnten, argumentiert Nicholas Conard. Der US-amerikanisch-deutsche Archäologe forscht an der Universität Tübingen und ist vor allem durch beeindruckende Funde auf der Schwäbischen Alb bekannt.

Was sich über Kulturen sagen lässt, die schon seit Jahrtausenden ausgestorben sind, versucht Conard zu rekonstruieren. Der Archäologe stützt sich auf stichhaltige Beweise – in Form von Artefakten, die Menschen damals herstellten. Sein Expertenwissen teilt er am Montag an der Universität Wien: Am 13. Juni ab 18 Uhr sprechen Fachleute unterschiedlicher Disziplinen darüber, seit wann es moderne Menschen gibt und was sie antreibt. STANDARD-Chefredakteur Martin Kotynek moderiert die Podiumsdiskussion.

Nicholas Conard ist an der Uni Tübingen Experte für Ur- und Frühgeschichte.
Foto: Friedhelm Albrecht, Universität Tübingen

STANDARD: Es gibt verschiedene Auffassungen davon, was Menschen ausmacht. Welche Eigenschaften sind das Ihrer Ansicht nach?

Conard: Diese Grundfrage war für Menschen schon immer bedeutend – Religionen setzen sich seit Jahrtausenden damit auseinander. Ich schätze, mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung zweifelt noch heute Darwins Evolutionstheorie an und glaubt, dass wir von einer Gottheit so geschaffen wurden und uns das ausmacht. Man kann sich auch an Menschenrechtsabkommen orientieren bei der Frage, was alle lebenden Menschen gemeinsam haben. Das bedeutet dann: Sie sind gleichwertig und haben prinzipiell das gleiche Intelligenzvermögen. Alle kulturellen Gruppen verfügen über eine voll entwickelte Sprache und können die Welt in der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft beschreiben. Alle haben Kunst und Glaubenssysteme.

STANDARD: Evolutionsbiologisch betrachtet existiert der moderne Mensch seit etwa 300.000 Jahren. Verfügten Menschen schon damals über diese Eigenschaften?

Conard: Zu dieser Zeit gab es zumindest Menschen, die anatomisch einen Körperbau wie wir hatten. Gleichzeitig lebten Neandertaler und Denisova-Menschen, die sich zumindest vereinzelt mit Homo sapiens paarten. Trotzdem würden die wenigsten Forschenden sagen, dass diese archaischen Vertreter kulturell moderne Menschen wie wir, wie Homo sapiens waren. Man könnte es also so sehen: Spätestens seit es nur noch eine Menschenform gab, was in unserer Geschichte völlig unüblich ist, existierten Menschen wie wir. Das wäre etwa vor 40.000 Jahren. Interessanterweise haben wir genau aus dieser Zeit Belege für neue Technologien, aber auch neue Arten symbolischer Artefakte, die aufkamen und mit denen ich mich beschäftige.

Auf der Schwäbischen Alb wurden unter anderem die "Venus vom Hohle Fels" aus Mammutelfenbein und eine Flöte aus Gänsegeierknochen zutage gefördert.
Foto: Hilde Jensen, Universität Tübingen

STANDARD: Welche sind das?

Conard: Es gibt mindestens vier Kategorien. Dazu zählt Schmuck, der in eine dreidimensionale Form gebracht wurde – in Europa waren das meist Schnitzereien aus Mammutelfenbein. Davor trug man nur durchlöcherte Naturprodukte wie Muscheln, Eierschalen oder Zähne. Früher wurden Objekte zudem ausschließlich mit abstrakten Kreuz- und Linienmustern verziert. Erst vor rund 40.000 Jahren gab es figürliche Darstellungen, wie etwa die "tanzende Fanny" aus dem niederösterreichischen Stratzing und meine Grabungen in Südwestdeutschland zeigen. Gleiches gilt für Funde aus Frankreich und Rumänien, ähnliche Funde aus Borneo und Sulawesi sind noch nicht ganz sicher datiert.

STANDARD: Auf der Schwäbischen Alb ist Ihr Team auf die Venus vom Hohle Fels gestoßen.

Conard: Und auf weitere figürliche Kunstwerke wie Löwenmenschen, von denen in der Region schon drei gefunden wurden. Dabei handelt es sich um die dritte Kategorie: die Darstellung von Mischwesen, die in der Natur nicht existieren, etwa dieser Mensch mit Löwenkopf und weiteren Löwenmerkmalen. Damit können wir sogar einen Einblick in die Gedankenwelt der damaligen Menschen gewinnen und auch in die Glaubenswelt. Analog zur Darstellung von Jesus am Kreuz kann man sagen: Wenn das nur einmal gefunden wird, ist es merkwürdig. Wenn es mehrmals auftaucht, ist es ein klarer Beleg für ein Glaubenssystem, vielleicht auch für Religion.

In dieser Region wurden bereits mehrfach Darstellungen von "Löwenmenschen" entdeckt, wie dieses Exemplar, das 1939 gefunden wurde. Dabei handelt es sich um Hinweise auf mythische oder religiöse Konzepte.
Foto: imago / Wilhelm Mierendorf

STANDARD: Aus dieser Zeit haben Sie auch Musikinstrumente gefunden.

Conard: Genau – die vierte Kategorie. Wir haben mehrfache Belege für Flöten. Manche wurden aus den Knochen von Geiern und Schwänen hergestellt, andere aus Elfenbein geschnitzt. Damals lebten also Menschen, die Kunst erschaffen, Schmuck getragen, Geschichten erzählt und musiziert haben. Vereinfacht dargestellt: Wenn wir in diese Zeit zurückreisen würden, müssten wir sicherlich eine neue Sprache lernen – und darüber hinaus, wie man Rentiere und Pferde jagt, Felle bearbeitet und mit damaligen Mitteln kocht. Umgekehrt müssten sie in unserer Zeit in Zentraleuropa vielleicht lernen, wie man Computer bedient oder Autos fährt. Aber das wäre relativ schnell erlernbar. Die Menschen wären uns sehr ähnlich.

STANDARD: Ihr Fachbereich hat sich durch neue Technologien und Methoden, die früher unmöglich waren, stark verändert. Welche finden Sie besonders eindrucksvoll?

Conard: Ich tendiere da zum Nerd – ich habe immerhin auch Geologie, Chemie und Physik studiert. Mich fasziniert die Vorstellung, dass Strahlung aus dem All ständig durch unsere Körper geht. Diese Art von Kernphysik steht in Verbindung mit Supernovae und explodierenden Sternen. Sie ist die Grundlage für Datierungsmethoden, die in der Archäologie angewendet werden und das ungefähre Alter eines Materials verraten. Aber auch Genetik, Proteinanalysen und das Rekonstruieren der Umwelt von einst sind faszinierend. Im Gelände findet man hierzulande Tierknochen von Elefanten und Bären bis hin zu Spitzmäusen und Lemmingen, die uns die frühere Tierwelt zeigen.

STANDARD: Wie wird sich das Forschungsfeld weiterentwickeln?

Conard: Ich sehe ein gewisses Risiko darin, dass der Fokus zu sehr auf Spezialisierung liegt. Viele Genetiker nehmen etwa nur selten an Grabungen teil. Und es gibt weniger Leute, die durch Handarbeit im Feld die Quellen sichern wollen, durch die wir überhaupt erst Interpretationen anstellen können. Gerade der Kontext, in dem wir ein Objekt finden, ist aber enorm wichtig. Um ihn zu deuten, braucht es Erfahrung. Das kann keine Maschine erledigen. Und wird eine Grabung schlampig durchgeführt, ist das nicht durch gute Ergebnisse im Labor zu retten. Es gibt aber eine Tendenz, sich stark zu spezialisieren, weil viele unterschiedliche Techniken notwendig sind, um diese Forschung zu betreiben. Die Kunst ist vor allem, dafür zu sorgen, dass Spezialisten noch miteinander reden können, genug Kontakt zur Geländearbeit haben und man gegenseitiges Verständnis aufbringt.

STANDARD: Was würde von unserer Epoche übrig bleiben, wenn Menschen in der Zukunft sie archäologisch analysieren würden?

Conard: Spontan würde ich sagen, dass die enormen Eingriffe in die Landschaft im Vordergrund stünden: Straßen, Brücken, Staudämme, Häuser, Fabriken. Aber es ginge auch stark um Fragen des Transports und der Mobilität, wovon die vielen Flugzeuge, Autos und Schiffe zeugen. Man würde wohl schnell merken, dass in den letzten Jahrhunderten sehr viele Menschen unterwegs waren. Das zeigt sich auch an den Skeletten von Menschen, die aus anderen Teilen der Erde hierherkamen. Und wir bewegten uns nicht nur auf dem Planeten, sondern traten auch außerirdische Reisen an, worauf Raketen hindeuten würden.

STANDARD: Heute werden viele Artefakte aus der Vergangenheit als potenziell religiöse Kultgegenstände interpretiert – wie die mythischen Mischwesen.

Conard: Selbstverständlich würde man sich auch bei uns fragen: Was war ideologisch los? Gab es Religion, Musik, Kunst? Ich vermute, wenn man Glaubenssysteme anhand der materiellen Reste rekonstruieren würde, dann würde man das mit dem global-kapitalistischen Wirtschaftssystem in Verbindung bringen. Wenn schriftliche Quellen erhalten bleiben, wird irgendjemand schlau genug sein, sie zu entziffern. Dann könnte man in Österreich vielleicht noch Freud, Wittgenstein, Joseph Roth und Werke vieler anderer lesen – eine großartige Vorstellung. Und wenn ich Hinweise auf Musik vor 40.000 Jahren finden kann, würden wahrscheinlich auch Mozart und die Wiener Klassik nicht verlorengehen. (Julia Sica, 13.6.2022)