Moderne Gesellschaften, die vom Fortschrittsnarrativ geprägt sind, tun sich schwer, mit Verlusten umzugehen, sagt der Kulturtheoretiker Andreas Reckwitz.

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Er ist einer der wichtigsten und einflussreichsten Gegenwartsdiagnostiker: Der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz veröffentlichte 2017 das Buch Die Gesellschaft der Singularitäten, zwei Jahre später konstatierte er mit Blick auf die Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne Das Ende der Illusionen, und jetzt analysiert der 52-jährige Kulturtheoretiker kollektive Verlusterfahrungen als zentrale Kategorie zum Verständnis moderner Gesellschaften. Der Verlust sei quasi "die andere Seite des Fortschritts".

STANDARD: Warum ist der "Verlust" für Sie als Soziologen so interessant?

Reckwitz: Wir alle müssen mit Verlusten umgehen, das ist Teil des Menschseins. Bislang gibt es vor allem eine psychologische Perspektive, die sich fragt, wie der einzelne Mensch mit Verlusterfahrungen umgeht. Aus meiner Sicht ist es aber zentral, dass man Verluste auch als gesellschaftliches Phänomen behandelt, sie sind gesellschaftlich produziert, und der Umgang mit ihnen ist sozial geprägt. Die moderne Gesellschaft hat allerdings Schwierigkeiten, mit Verlusten umzugehen, weil das moderne Fortschrittsnarrativ im Grunde Verlustfreiheit verspricht: Die Zukunft wird besser sein als die Gegenwart, und diese ist besser als die Vergangenheit. Beim Verlust werden die Dinge jedoch schlechter, und man betrauert diesen Prozess. Das passt nicht in das Modell des Fortschritts.

STANDARD: Müssen wir (wieder) lernen, dass es auch mal ab- oder rückwärts geht – oder es Stagnation gibt?

Reckwitz: Das ist eine Herausforderung, denn die Moderne lebt ja vom "Mehr" und "Besser". Der moderne Kapitalismus lebt von der Expansion und der Idee der Wohlstandssteigerung. Die moderne Politik lebt von dem Versprechen, dass die Menschen freier und wohlhabender werden. Wissenschaft und Technik leben davon, dass die Lebensbedingungen durch sie immer einfacher werden. Die moderne Mittelschicht lebt vom sozialen Aufstieg und das moderne Selbst von der Selbstoptimierung und Selbstentfaltung. Verlusterfahrungen werden so eher an den Rand gedrängt und dann beispielsweise von der Psychotherapie oder der Religion aufgefangen. Andererseits stellt die moderne Gesellschaft Verluste en masse her.

STANDARD: In welcher Form?

Reckwitz: Allein schon dadurch, dass sie auf rapidem sozialen Wandel beruht, in dem immer wieder eine Umwertung des Bestehenden stattfindet. Auch unintendierte Folgen globaler gesellschaftlicher Prozesse bringen Verluste hervor, die niemand geplant hat. Wettbewerbskonstellationen treiben Gegenüberstellungen von Gewinnern und Verlierern hervor. In der Gegenwartsgesellschaft artikulieren sich nun Verlusterfahrungen sehr deutlich. Das ist bemerkenswert. Das Fortschrittsversprechen wird hier sehr fragil. Man erkennt das beispielhaft in zwei sehr unterschiedlichen Feldern: Es gibt eine auffällige politische Artikulation von Modernisierungsverlierern, die im Zuge des Übergangs zur postindustriellen Gesellschaft unter Status- und Machtverlust leiden. Hier gibt es Verlustwut, und der Populismus ist ihr Resultat, ist eine Folge davon: eine Politik, die auf der Idee beruht, das Verlorene rückgängig zu machen. Zum Zweiten werden im Zuge der Einsicht in den Klimawandel Verlustantizipationen hinsichtlich der Zukunft sehr präsent: Man geht immer mehr davon aus, dass sich die globalen Lebensbedingungen verschlechtern könnten oder werden. Hier gibt es Verlustangst und Tendenzen eines Zukunftsverlusts bis hin zur – wie es Eva Horn formuliert hat – "Zukunft als Katastrophe".

STANDARD: Für die Politik bedeutet das demnach, dass sie zunehmend quasi auch eine Art Verlustmanagement leisten muss?

Reckwitz: Die Frage ist, ob eine Politik denkbar ist, die nicht mehr auf dem klassischen Fortschrittsversprechen basiert. Gegenwärtig kursieren ganz unterschiedliche Strategien des Verlustmanagements.

STANDARD: Welche zum Beispiel?

Reckwitz: Die eine Strategie einer Verlustpolitik findet sich im Populismus, der nostalgisch suggeriert, man könne und solle in den vergangenen Zustand zurück, etwa in die 50er-Jahre, mit Kleinfamilie und Industriearbeiterschaft. Das Motto lautet "take back control". Eine ganz andere Weise, mit Verlusten umzugehen, findet sich in der ökologischen Debatte um den Klimawandel. Dort versucht man eine Alternativerzählung nach der Devise: Weniger ist mehr. Indem man sagt, Verluste etwa an Mobilität können durchaus einen Gewinn an Lebensqualität bedeuten. Also eine Umdefinition: Verlust als Gewinn.

STANDARD: Eine weitere Strategie zur Verlustbewältigung ist – Sie sprechen vom "Leitwert" – Resilienz.

Reckwitz: Das ist die dritte Strategie: eine Politik der Prävention und Risikokalkulation, die als Ziel Resilienz vorgibt. Statt um Fortschritt geht es nun darum, widerstandsfähiger gegenüber negativen Entwicklungen zu werden. Sich also gegen Verluste zu wappnen und nicht zu kollabieren, wenn sie eintreten.

STANDARD: Läuft der Leitwert Resilienz nicht auch Gefahr, dass er strukturkonservierend wirkt? Dass Menschen lernen, sich auch an Verhältnisse anzupassen, die sie eigentlich ändern oder bekämpfen sollten? Damit kann ja auch ein gesellschaftliches Widerstandspotenzial sediert werden ...

Reckwitz: Ich habe eine ambivalente Bewertung zur Resilienz. Ein Problem absoluter Resilienz ist tatsächlich, dass man gar keinen Strukturwandel mehr versucht, sondern sich mit den negativen Konsequenzen abfindet. Das hieße dann etwa, nur noch mit den Folgen des Klimawandels zu leben lernen und gar nicht mehr zu versuchen, diesen selbst abzubremsen. Trotzdem sehe ich im Resilienzkonzept etwas Bedenkenswertes, nämlich gegen den naiv optimistischen Fortschrittsglauben die Einsicht, dass sich negative Ereignisse nicht komplett vermeiden lassen. Man muss mit den Verlusten rechnen. Das ist eine Ernüchterungskur, vielleicht aber auch eine Realismuskur. Man kann ja auch beides versuchen: resilienter zu werden und sich weiterzuentwickeln. Das könnte man auch der Gesellschaft empfehlen: so eine Art Standbein und Spielbein zu entwickeln. Resilienter zu werden war in der Pandemie ebenfalls ein großes Thema. Es gab durch sie zwar keinen großen Strukturbruch – was manche ja am Anfang gedacht haben –, aber es deuten sich schon gewisse Verschiebungen an.

STANDARD: Woran denken Sie da?

Reckwitz: Die gesellschaftliche Risikowahrnehmung hat zugenommen und damit auch die staatlichen Bemühungen zur Risikopolitik. Man erkennt da eine Linie von der Finanzkrise über die Pandemie bis zur russischen Invasion in die Ukraine: Unwägbarkeiten der Finanzmärkte, gesundheitliche Risiken, militärische Bedrohungen – überall werden Risiken des nur scheinbar stabilen Alltags in Europa deutlich, und in allen Fällen ist nun gerade der Staat gefordert, entsprechende resiliente Infrastrukturen aufzubauen, gegenwärtig bei der Gesundheitsversorgung und im Bereich militärische Verteidigung. Dahinter steckt ein deutlicher Perspektivwechsel der Politik – in Richtung Verlustminimierung. (Lisa Nimmervoll, 14.6.2022)