Die Räumung des Schlachtfeldes als natürliche Folge infernalischer Feuerwirkung: französische Infanterie 1916 bei Douaumont (Verdun).

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Wladimir Putins Hoffnung, gegen die Ukraine einen "Enthauptungsschlag" zu führen und das Nachbarland gewissermaßen im Handstreich zu nehmen, hielt keine zwei Wochen vor. Der von russischer Seite gerade auch gegen die Zivilbevölkerung brutal geführte Krieg gleicht heute der angestrengten Fortsetzung seiner selbst. Er ist, mit Blick auf Kämpfe um Sjewjerodonezk und Lyssytschansk in der Ostukraine, in ein zähes Ringen übergegangen, von den Aggressoren zum Teil mit Streumunition geführt. Es handelt sich jetzt um ein zermürbendes Klein-Klein. Dabei ist der Hickhack um Quadratkilometerflächen an die Stelle großer, strategischer Zielsetzungen getreten.

Was die Okkupanten nach wie vor als "Operation" kleinreden, ist ein Gewühle, das allen Beteiligten, vor allem auch den zivilen, die Lasten einer permanenten Abnutzung aufbürdet. Unwillkürlich fühlt man sich an die Ermattungsrhetorik der ersten groß orchestrierten Massenvernichtung erinnert. Durch den Ersten Weltkrieg wurde 1914 bis 1918 Europas männliche Jugend millionenfach zur Schlachtbank geführt.

Der Weltkrieg, ursprünglich zustande gekommen durch die Unverantwortlichkeit politischer Hasardeure, wurde zum Menetekel. Eine ursprünglich patriotisch beschwingte Unternehmung mündete binnen Monaten in eine Schlächterei. Mit der Industrialisierung des Rüstungswesens waren ab Mitte des 19. Jahrhunderts bedeutende "Fortschritte" erzielt worden. Die verheerenden Feuerwirkungen von Artillerie und Repetiergewehren lichteten die Schlachtreihen gegnerischer Infanterie im Nu. Es gehört 1914 zu den Obszönitäten des Krieges, dass französische Fußsoldaten anfangs scharlachrote Hosen trugen: eine Einladung an Maschinengewehrschützen, ihre Ziele anzuvisieren.

Verblutungsgefahr

Solche Auswüchse der modernen Massenkriegsführung müssen im Gedächtnis bewahrt werden. Zum Beispiel verzeichnete die Armee Österreich-Ungarns mit Jahreswechsel 1914/15, bei Beteiligung von 1,8 Millionen Soldaten, Ausfälle von 190.000 Gefallenen und 500.000 Verwundeten. Sprachen die Militärs zu Beginn von der "Gefahr des Verblutens", führten sie dieses alsbald selber planmäßig herbei.

Mit der Stillstellung des Bewegungskrieges gruben sich die Beteiligten ein. Deutsche und alliierte Truppen legten in den fruchtbaren Böden Flanderns verzweigte Grabensysteme an, geschützt durch wahre Dornröschenwälder von Stacheldraht. Umgekehrt sprachen Oberkommandierende wie Erich von Falkenhayn von der notwendigen Ermattung des Gegners. Er nannte dergleichen "Weißbluten", das Anwerfen der "Blutpumpe".

Den meist sinnlosen Großangriffen gingen tagelange Trommelfeuer voraus – vergleichbar heutigen Raketenangriffen. Sturmangriffen des Feindes begegneten die Grabenkrieger mit einer tiefen Staffelung des eigenen Verteidigungssystems. Aus Trichtern und Pfützen heraus feuerten Stoßtrupps auf den hereinbrechenden Gegner. Engagierte Krieger wie der Dichter Ernst Jünger bejubelten die Geburt eines "neuen Menschen", der im "eisengewohnten Tempo" seinem Gegenüber den Garaus mache. Vereinzelt begegnet man solchen Kriegerfiguren noch heute: in Gestalt verwegener Kämpfer mit Bartgeflecht.

In Wahrheit verschafften Großschlachten wie diejenige in Verdun 1916 keiner Partei einen Vorteil. Das Prinzip "Ausblutung" schwächt zuallererst die eigene Kraft. Der Kriegsschauplatz als Verschleißstelle, als Versuchsstation der Inhumanität, führt zu nichts anderem als zur "Vermassung", zur Anonymisierung des Sterbens. Verblüffenderweise jedoch stärkt die massenhafte Tötung keineswegs den Friedensmuskel. Die Verwandlung der Toten in "Opfer" ("sacrificia") schließt eine Haltung nachdenklichen Bilanzierens offenbar aus.

Kontinuierlicher Zoll

Die Idee des kontinuierlichen Kräfteverbrauchs nannte der französische Kommandeur Joseph Joffre, mit Blick auf gegnerische Linien, voller Verschmitztheit: "Ich knabbere sie auf!" Immer noch wird die akute Friedenshoffnung vieler Europäer durch folgende Überlegung genährt: Irgendwann müsse Putin, der Aggressor, sich an den unzähligen Toten hüben wie drüben satt "geknabbert" haben. Irgendwann weicht die heroischste Lesart eines – verbrecherischen – Krieges dem Stadium verzweifelter Ernüchterung. Dann wird das "Sakrifizielle" zum "Viktimen", zur bloßen Opferung, der kein Maß zugrunde liegt. Es sei denn das der Notwehr.

Soeben hat der britische Geheimdienst mitgeteilt, dass sich die russische Seite auf einen langen Krieg vorbereite. Nie hat man sich mehr gewünscht, dass sich die Agenten Ihrer Majestät irren mögen. (Ronald Pohl, 14.6.2022)