Geplant sind offenbar sowohl kurzfristige als auch dauerhaft wirkende strukturelle Maßnahmen. Erste Gelder dürften schon im Sommer fließen.

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Wien – Für ein Phänomen, das inzwischen niemand in Österreich haben will, hält sie sich schon ziemlich lange: Die Rede ist von der kalten Progression, den automatischen Steuererhöhungen, die Einkommensbezieher betreffen. Seit Jahren wird über ihre Abschaffung diskutiert, immer wieder wurde das in Wahlkämpfen von allen großen Parteien angekündigt. Passiert ist allerdings bisher nichts.

Angesichts der aktuell hohen Inflationsrate und vermutlich der schwachen Umfragewerte der Koalition sieht es so aus, als würden ÖVP und Grüne nun einen Anlauf wagen und das Thema tatsächlich angehen. Die Gespräche zu einem Entlastungspaket der beiden Parteien waren am Montag laut Verhandlern in der Zielgeraden, am Dienstag sollen die Maßnahmen präsentiert werden. Neben erwarteten Schritten wie einer Verschiebung der CO2-Steuer und einer Anhebung des Klimageldes für alle auf 250 Euro deutet alles auf eine Überraschung hin: Im Paket enthalten sind auch Maßnahmen, um die kalte Progression abzufedern. Regierungsvertreter sprachen deshalb am Montag schon von einem "Mega-Entlastungspaket".

Umkämpftes Phänomen

Unter kalter Progression wird der Effekt verstanden, der eintritt, wenn in einem progressiven Steuersystem Steuerstufen und Freibeträge nicht an die Inflation angepasst werden. Zur Erklärung: Ein Jahreseinkommen unter 11.000 Euro ist steuerfrei in Österreich. Das Einkommen von 11.000 bis 18.000 Euro wird mit 20 Prozent versteuert, darüber sind es 32,5 Prozent. Das geht so weiter bis zu 55 Prozent für Spitzenverdiener ab einer Million Euro. Durch die hohe Inflation dürften die Einkommen in den kommenden Monaten kräftiger angehoben werden, im Rahmen der Kollektivverträge. Dadurch rutscht ein größerer Teil des Gehalts von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in eine höhere Steuerstufe, die gesamte Steuerbelastung steigt also. Wenn damit auch das real verfügbare Einkommen, also unter Berücksichtigung der Inflation, steigt, dann ist das auch so gedacht: Wer mehr verdient, soll höher besteuert werden.

Aber das Einkommensplus, das nur zur Abdeckung der Inflation dient: Wenn hier die Steuer zupackt, ist das die kalte Progression.

Österreich wird nicht automatisch anpassen

Die Regierung hätte mehrere Möglichkeiten. Eine besteht darin, einen "Tarif auf Rädern" einzuführen wie in der Schweiz, das heißt alle Tarifstufen jährlich an die Inflation anzupassen. Während zunächst erwartet wurde, dass nicht alle Steuerstufen in Österreich der Anpassung einbezogen werden, sah es am Montagnachmittag so aus, als wäre das der Fall. Eine Ausnahme soll es geben: Für Personen mit Einkommen über einer Million Euro soll die Anpassung nicht kommen. Diese Gutverdiener würden natürlich dennoch jedenfalls profitieren, und zwar mit jenem Teil ihres Einkommens, das den unteren Steuerstufen unterliegt.

Die Anpassung an die Inflation müsste auch nicht automatisch beschlossen werden. Ein Vorbild dazu findet sich in Deutschland: Dort gibt es ein Gesetz aus dem Jahr 2012, das Regierungen eine Entschädigung für die kalte Progression nahelegt. Demnach muss das Finanzministerium alle zwei Jahre ein Bericht dazu vorlegen, wie sich die Progression entwickelt. Die Entscheidung, zu handeln und Steuern zu senken, muss aber der Bundestag aktiv treffen.

In Österreich soll allerdings eine automatische Anpassung kommen, und zwar für einen großen Teil der Entlastung, der im Umfang zwei Dritteln der kalten Progression entspricht. Auch die restliche Entlastung soll gesetzlich fixiert werden, allerdings soll hier jede Regierung selbst entscheiden können, wie sie genau entlasten will.

In Österreich haben sich zuletzt die beiden Forschungsinstitute Wifo und IHS dagegen ausgesprochen, die kalte Progression automatisch abzuschaffen. Sie empfehlen stattdessen, die Steuerstufen einmalig anzuheben und sich für das Ende kalte Progression nochmal intensiver Zeit zu nehmen und dann zu entscheiden.

Was sind die Argumente für und gegen die Abschaffung? Tatsache ist, dass der Staat in Österreich seit Jahren gleich stark zugreift: Die Lohnsteuerquote, also wie viel Steuern von ihren Einkommen die Bürger im Verhältnis zu ihren Bruttoeinkommen zahlen, ist seit Jahrzehnten konstant. Die Quote steigt immer, bis eine neue Steuerentlastung sie senkt. Im Rahmen dieser Entlastungen alle paar Jahre wurden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bisher für die kalte Progression abgegolten.

Keine Zeitverzögerung

Der Automatismus würde bedeuten, dass es bei der Entlastung keine Zeitverzögerung mehr gibt. Monika Köppl-Turyna, Direktorin des arbeitgebernahen Instituts Eco Austria, bewertet das positiv: Die bisherigen Anpassungen seien oft wahlkampfgetrieben gewesen, hier einen vorhersehbaren klaren Pfad zum Schutz der Kaufkraft zu geben, sei sinnvoll.

Eine Streitfrage betrifft, wer wie sehr von der Maßnahme profitiert. Das arbeitnehmernahe Momentum-Institut hat errechnet: Hätten Haushalte mit dem niedrigsten Fünftel der Einkommen im Schnitt netto nur 72 Euro pro Jahr mehr zur Verfügung, wäre die kalte Progression 2022 abgeschafft worden. Bei Haushalten im Fünftel mit den höchsten Einkommen wären es 552 Euro. Unterstellt wurde eine Inflationsrate von etwa sechs Prozent. Die Entlastung oben ist also deutlich höher, was die Maßnahme sozial wenig treffsicher erscheinen lässt.

Verliert der Staat seine Reserven?

Gegenargument: Wer wohlhabender ist, zahlt auch mehr Steuern, daher wird in absoluten Beträgen dort automatisch mehr entlastet. Relativ zum Einkommen entlastet wird am stärksten bei der oberen Mittelschicht, dem vierten Fünftel der Einkommensbezieher.

Eine zweite Frage ist, wie sich ein Ende der kalten Progression auf die Staatsfinanzen auswirken wird. Bisher hat sich ja der Staat durch das Phänomen immer eine Art Reserve aufgebaut. Der Ökonom Peter Brandner von der Initiative Die Weis[s]e Wirtschaft argumentiert, dass eine automatische Anpassung der Steuerstufen an die Inflation dazu führen wird, dass die Bürgerinnen und Bürger überkompensiert werden.

Wie das geht? Viele Arbeitnehmer profitieren ja nicht von steigenden Einkommen, zum Beispiel weil sie in Karenz waren oder ihren Job gewechselt haben oder in Pension gehen. Bei einer automatischen Anhebung der Tarifstufen würden sie dennoch gewinnen und weniger Steuern bezahlen, obwohl sie im strengeren Sinn nicht der kalten Progression unterliegen.

Wenn der Staat künftig Tarife automatisch anpasste, würde ein Drittel der Ausgaben dafür auf Überkompensation entfallen, sagt Brandner. Die Reserven des Staats würden deutlich kleiner werden, wenn wohl auch nicht verschwinden, da ja auch jenseits der Inflation Lohnsteigerungen stattfinden.

Als fix gilt auch, dass Sozialhilfen erhöht werden und es auch hier zu einer Anpassung an die Teuerung kommt. (András Szigetvari, 13.6.2022)