Die Linguistin Maria M. Morozova und der Linguist Aleksander J. Rusakov geben im Gastblog Einblick in das Leben der Philologin Agnija Vasilievna Desnitskaja.

Agnija Vasilievna Desnitskaja (1912–1992), eine sowjetische und russische Philologin, begann ihre wissenschaftliche Arbeit in den 1930er-Jahren in Leningrad (heute St. Petersburg) als Spezialistin für allgemeine, vergleichend-historische und germanische Sprachwissenschaft. Bekanntheit in der Forschung erlangte sie jedoch durch ihre Studien zum Albanischen und ihre Tätigkeit als Begründerin der Russischen wissenschaftlichen Schule für albanologische Studien. Desnitskajas erste Bekanntschaft mit Albanien fand 1946 statt. Ihre Ausbildung als Albanologin fiel hingegen in eine Zeit, in der Politik und Ideologie in der sowjetischen Wissenschaft vorherrschend waren.

Agnija Vasilievna Desnitskaja in den 1930er-Jahren.
Foto: Archiv

Desnitskajas erste Reise nach Albanien

Anfang Juli 1946 traf Desnitskaja als Teilnehmerin der offiziellen sowjetischen Delegation, die am Kongress der albanischen Frauen teilnahm, in Albanien ein. Das genaue Programm des Aufenthalts der Delegation ist nicht erhalten, bekannt ist lediglich, dass es neben der Teilnahme an den Sitzungen des Kongresses auch einige Reisen durch das Land umfasste. In ihren persönlichen Erzählungen hat Desnitskaja später immer wieder von ihrer ersten Bekanntschaft mit Albanien berichtet. Schon damals machte dieses Land einen starken Eindruck auf sie.

Albanien befand sich damals im zweiten Nachkriegsjahr in einem wahrlich umfassenden Wandel. Die Kommunisten waren an die Macht gekommen und hatten sich grundlegende gesellschaftliche Veränderungen zum Ziel gesetzt, vor allem die Beseitigung der "Überbleibsel der Vergangenheit", was ihnen am Ende auch gelang. Im Jahr 1946 hatte dieser Prozess jedoch gerade erst begonnen. Zu jener Zeit war Albanien durch eine ungewöhnlich hohe Konzentration ethnisch-kultureller Prozesse und Phänomene charakterisiert, da unterschiedliche soziale, konfessionelle und kulturelle Traditionen auf diesem relativ kleinen geografischen Raum vertreten waren.

Diese Vielfalt wurde durch die geschichtlichen Umstände der verschiedenen Regionen Albaniens bestimmt, dessen Territorium seit der Antike ein Objekt des Interesses und ein Schauplatz von Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Kräften und Staaten war. In der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre waren diese Traditionen auch noch recht lebendig. Die Geschichte Albaniens lag greifbar an der Oberfläche und wurde so zum Gegenstand direkter Beobachtung. Für Agnija Desnitskaja mit ihrer besonderen Fähigkeit, die Situation in ihrer Gesamtheit zu überblicken, war dies äußerst attraktiv.

Familie Desnitskij 1946.
Foto: Archiv

In ihren mündlich mitgeteilten Erinnerungen erzählte Desnitskaja sehr oft von den sie besonders beeindruckenden "jungen Partisaninnen, die durch das Feuer des heroischen nationalen Befreiungskampfes gingen". In schäbige Militäruniformen gekleidet, konnten diese Mädchen im patriarchalisch geprägten Albanien einen besonders starken Eindruck auf Besucher machen. Dies vor allem im Gegensatz zu Frauen und alten Männern in ihren traditionellen, je nach Herkunftsregion unterschiedlichen Trachten, zu sunnitischen Religionsführern und Bektaschi-Scheichs, zu Franziskanermönchen, die damals noch nicht völlig aus dem Straßenbild verschwunden waren, zu orthodoxen Priestern und zu eleganten, in Italien und Österreich ausgebildeten Professoren.

Denkt man heute an diese Periode der Geschichte Albaniens, so drängt sich vor allem das Bild der Entstehung eines der grausamsten und repressivsten Regime der Geschichte Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins Bewusstsein. Desnitskaja jedoch, die aus der UdSSR kam, sah 1946 vor allem einfache Menschen, die über den Faschismus triumphierten und sich aufrichtig bemühten, ein neues, gerechtes Leben aufzubauen. Und Ungerechtigkeiten gab es im Vorkriegsalbanien mehr als genug.

Stalin vs. Marr: Ideologische Kontrolle in der sowjetischen Wissenschaft

Nach diesem ersten Besuch Albaniens 1946 vergingen noch ein paar Jahre, bis Desnitskaja sich den albanischen Studien zuwandte. Ihre Schaffensperiode gliedert sich in zwei klare Abschnitte, deren Übergang mit einem überaus wichtigen Ereignis in der Geschichte der sowjetischen Sprachwissenschaft zusammenfällt, nämlich der Diskussion des Jahres 1950 oder, präziser gefasst, dem Zeitraum von zwei Jahren vor und nach der Veröffentlichung des berühmten Artikels "Marxismus und Probleme der Sprachwissenschaft" von Josef Stalin in der Tageszeitung "Prawda". Im Jahr 1948 war Desnitskaja eine bekannte, produktive Sprachwissenschafterin der mittleren Generation. Ihre wissenschaftliche Tätigkeit entwickelte sich in den 30er- und 40er-Jahren hauptsächlich im Rahmen der sogenannten japhetischen Theorie in ihrer weniger kategorischen Meschtschaninow-Version.

Die japhetische Theorie (der biblische Begriff des 18. Jahrhunderts bezieht sich auf die Herkunft der indoeuropäischen Sprachen von Japhet, einem der drei Söhne Noahs) wurde von Nikolaj Marr entwickelt, einem Spezialisten für kaukasische Studien, und dominierte in der sowjetischen Sprachwissenschaft vom Ende der 1920er- bis zum Anfang der 1950er-Jahre. Diese Theorie lehnte alle Errungenschaften der bisherigen Sprachwissenschaft ab. Sie gebrauchte weitgehend die vulgarisierte marxistische Terminologie und stützte sich auf spekulative und unwissenschaftliche theoretische Behauptungen.

Nach Marrs Tod versuchte sein engster und prominentester Anhänger, Iwan Meschtschaninow, der Theorie unter Einschluss der sprachwissenschaftlichen Typologie eine etwas realistischere und wissenschaftlichere Richtung zu geben. Von allen auf diesem Gebiet forschenden Wissenschaftern war Desnitskaja möglicherweise diejenige, die in ihren Veröffentlichungen am stärksten ihr Interesse an der Typologie mit den fachlichen Fähigkeiten einer vergleichenden Sprachwissenschafterin vereinte. Ihre Forschungen stützten sich dabei vor allem auf das Material der germanischen Sprachen und des Altgriechischen.

Zu viel Marristin, zu wenig Marristin

Die Situation in der Sprachwissenschaft begann sich in den späten 1940er-Jahren jedoch zu ändern, als die japhetische Theorie nicht mehr eine Aneinanderreihung von gleichsam rituellen Klischees war, auf deren Grundlage ein Forscher mehr oder weniger ungestört seiner Arbeit nachgehen konnte. Denn sie wurde wieder zu einer aktiv propagierten Doktrin, die die Richtung, die Methode und den Inhalt jeder wissenschaftlichen Arbeit vollständig bestimmen sollte. Unter diesen Bedingungen sahen sich eine Reihe bekannter Wissenschafter, die diese Theorie mit wirklich ernsthafter Forschung verbanden, einer massiven harschen Kritik ausgesetzt. Zu diesen gehörte auch Desnitskaja, der insbesondere vorgeworfen wurde, "zum Konzept der Proto-Sprache abzugleiten, indem sie die Frage nach der indoeuropäischen Sprachgemeinschaft stellte, die angeblich in fernen historischen Epochen existierte".

Unter diesen Umständen erlaubte das Erscheinen von Stalins Leserbrief über die Rolle der Sprachwissenschaft in der "Prawda" den sowjetischen Forschenden, sich einer normaleren wissenschaftlichen Tätigkeit zuzuwenden, trotz der Absurdität dieser Situation für die Entwicklung der Wissenschaft unter normalen gesellschaftlichen Bedingungen. Doch ironischerweise kassierten Desnitskaja (ebenso wie Solomon Katsnelson, Mirra Guchman und einige andere Sprachwissenschafter, die mit den Moskauer und Leningrader Zweigstellen des Instituts für Sprache und Denken verbunden waren) nach dem Stalin-Brief weitere Maßregelungen, die nicht weniger despektierlich und hart waren. So wurde Desnitskaja des Marrismus bezichtigt und gerügt, sich nicht davon zu distanzieren.

Später erinnerte sie sich an diesen Lebensabschnitt als eine ausgesprochen schwierige Zeit, nicht nur der Angst, sondern auch einer völligen Verzerrung menschlicher Beziehungen. Fast fünf Jahre lang musste sie anstatt vollwertiger wissenschaftlicher Arbeit zahlreiche Reden und wissenschaftliche Artikel verfassen, von denen jeder eine neue Kritik der vorangehenden Arbeit enthielt. Wie sie selbst dazu feststellte, "wurde mir Ende der 1940er-Jahre vorgeworfen, eine zu wenig konsequente Marristin zu sein, und Anfang der 1950er-Jahre wurde mir nach einer sprachwissenschaftlichen Diskussion vorgeworfen, doch eine Marristin zu sein".

Desnitskaja mit ihrer Tochter und W. Fiedler in den 80er-Jahren.
Foto: Archiv

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Desnitskaja in ihrem Anfang der 80er-Jahre geschriebenen Artikel "Fragen der Satztypologie" die kreative Situation am Institut für Sprache und Denken Ende der 30er-Jahre eher positiv darstellte. Ein zeitgenössischer Leser mag sich daher über die folgende Aussage etwas wundern: "Mich überkommt ein Gefühl der Nostalgie, wenn ich mich an das wissenschaftliche Leben des Instituts für Sprache und Denken erinnere, das besonders gegen Ende der 30er-Jahre blühte."

Natürlich konnte auch Desnitskaja den Terror der Repressionen, der damals herrschte, nicht einfach vergessen. Aber in den 1930er-Jahren konnten die Menschen durch freies wissenschaftliches Schaffen von ihrer Angst vor Verhaftung etwas abgelenkt werden. In den späten 40er- und frühen 50er-Jahren hingegen blieb die Angst weiter bestehen, die Möglichkeit zu schöpferischer wissenschaftlicher Arbeit war jedoch praktisch verschwunden.

Entspannung des gesellschaftlichen Klimas

Um die Mitte des Jahres 1953 begann sich die Unterdrückungskampagne in der sowjetischen Wissenschaft zu beruhigen. Dies lag zum einen an der Kampagne selbst (in der Regel endete eine solche Aktivität irgendwann, und die ideologischen Behörden begannen, die nächste vorzubereiten), zum anderen an der allmählichen Entspannung des gesellschaftlichen Klimas nach Stalins Tod. Dennoch blieben gewisse Nachwirkungen bestehen. So war es für jene Sprachwissenschafter, die sich durch eine Verbindung zum Marrismus "kompromittiert" hatten, praktisch unmöglich, sich wie bisher mit einer typologisch und semantisch orientierten historischen Sprachwissenschaft zu beschäftigen. Desnitskaja wandte sich daher kurzzeitig den "reinen" indoeuropäischen Studien zu, und, was am wichtigsten ist, sie begann in den Jahren 1952 bis 1953 mit dem Studium der albanischen Sprache. Die Albanologie gewinnt damit eine ihrer größten Vertreterinnen, und die sowjetische Wissenschaft erhält eine geformte Schule der Albanologie.

Desnitskaja in den 1980er-Jahren.
Foto: Archiv

Das bedeutet nicht, dass Desnitskaja nicht mit dem Studium des Albanischen begonnen hätte, wenn die dramatischen Ereignisse an der Wende der 1940er- und 1950er-Jahre nicht stattgefunden hätten. Gemeint sind hier die äußeren Faktoren, die auf die eine oder andere Weise die fachliche Entwicklung eines Wissenschafters erleichtern, beschleunigen oder aber verlangsamen können. In jenen Jahren war Desnitskaja nämlich keineswegs die einzige Sprachwissenschafterin der Sowjetunion, für die der zumindest teilweise erzwungene Wechsel des Forschungsthemas zu neuen herausragenden wissenschaftlichen Leistungen führte. (Maria M. Morozova, Aleksander J. Rusakov, 17.6.2022)