Foto: Ines Bacher

Plötzlich ist sie da, die winzige weiße Gestalt am anderen Ufer. Im Gras gegenüber der Kaisermühlenbucht an der Neuen Donau kämpft sie sich aus einer großen Plane, die auch ein Fallschirm sein könnte. Das bei den Festwochen uraufgeführte Stück Astronaut Wittgenstein der kroatischen Regisseurin Nataša Rajković beginnt beinahe unbemerkt.

Erst nach und nach realisiert das Publikum den Protagonisten. Es dauert, bis er die Brücke überquert hat und in der Wasserbühnen-Arena ankommt. Ist die Figur mit ihrem Raumanzug und Vollvisierhelm einfach aus dem Nichts aufgetaucht, als ein Fall von Emergenz? Rajković könnte hier mit Satz 1 des Tractatus logico-philosophicus von Ludwig Wittgenstein einen Witz gemacht haben: "Die Welt ist alles, was der Fall ist."

In die Wirklichkeit gefallen

Der in die Wirklichkeit herunter- oder hereingefallene Astronaut ist als Theaterfigur ein typischer Fall von Fiktion. Aber darin wird er genauso real wie die demenzkranke Moni. Eventuell müssen wir ihn gar als Ausgeburt ihrer Fantasie sehen. Moni wird von einer einfühlsamen Enkelin und deren etwas zu sehr dem Gedanken der Ordnung verbundenem Vater gepflegt.

Sie kann sich nicht mehr so gut orientieren in der realen Welt, weil sie in die Bedingungen ihrer Krankheit und die Regelwerke der Pflege eingebuchtet ist. Daher passt die Bucht als Ort des Geschehens assoziativ zur Situation. Wittgenstein hat ja auch über Sprachspiele geschrieben. "Die Sprache", meinte er, "verkleidet den Gedanken." Hat das nicht schon einen Beigeschmack von Theater? Rajković lässt sich mit einer gewissen Unbekümmertheit auf ein Spielchen mit dem Philosophen ein.

In die Bucht schwimmt ein Paar weißer Schwäne mit vier Küken, Passanten flanieren vorbei. Sie haben gemeinsam, dass sie nicht zeigen, ob sie das Theater überhaupt bemerken. Über der Szene sinkt die Sonne hinter den Horizont, es taucht ein blasser Mond auf. Die beiden Himmelskörper erinnern an den Ausdruck "Raumschiff Erde". Und somit daran, dass eigentlich alle Schwäne, Menschen und auch Junikäfer von Natur aus Astronauten sind.

Astronautenfragen

Demnach war auch Ludwig Wittgenstein – "Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit" – ein Raumfahrer wie du und ich. Bei Nataša Rajković ist er ein Alien, der zunehmend penetranter wird, sich den Helm vom Kopf reißt und schreit: "Es reicht!" Und nach Sesseln verlangt. An der Stuhlreihe interviewt der enragierte Weltraum-Wittgenstein zwei junge Abgesandte der TU-Wien-Initiative Space-Team. Es geht um Satelliten, Raketen und die Frage "Ab wann ist man ein Astronaut?".

Das philosophischere Wort vom Raumschiff Erde bleibt ungesagt. Dafür taucht Moni im Raumanzug auf. Sie zieht den Ludwig und die anderen Figuren aus ihrem Leben an der Hand mit sich fort, die Enkelin schimpft über den despektierlichen Begriff Demenz. Da sind schon die harmlosen Junikäfer gekommen, die vom Publikum hektisch abgewehrt werden wie gefährliche Wespen. Und das Space-Team schießt eine Rakete ab. (Helmut Ploebst, 14.6.2022)