Ja, wo bleibe denn der Aufschrei der mutigen Genossinnen und Genossen, poltert die Wiener Grüne Berîvan Aslan. Aslan ist kurdischstämmig. Sie zählt also zu jener ethnischen Minderheit, deren politische Vertretung der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP) bekämpft. Genau mit jenem Autokraten traf sich Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) in Istanbul. Auf einem Foto ist Ludwig neben Erdoğan zu sehen – und lächelt. Er lobt die türkischen Friedensbemühungen in der Ukraine. Aus Aslans Sicht verrate Ludwig seine politischen Ideale "für persönliche Profite".

Mit dieser Meinung ist sie nicht allein. Auch der Soziologe Kenan Güngör hält es für unbegreiflich, dass der Bürgermeister einer "Menschenrechtsstadt", in der die Regenbogenparade groß gefeiert wird, lobende Worte für Erdoğan findet, der Demokratie und Menschenrechte mit Füßen trete und die Bewegung von homo- und bisexuellen und transsexuellen Personen "in seinem Land als abartig bezeichnet und niederknüppelt".

"Ist es Selbstüberschätzung, ein zynischer, mitunter provinzieller Wink an die potenzielle AKP-Wählerschaft in Wien oder was anderes?", fragt Güngör auf Facebook. "Gäbe es Anzeichen, dass sich bei diesem Regime etwas zum Besseren wendet, so könnte ich das als wohlmeinende Geste verstehen – trotz aller Missstände. Doch Gegenteiliges ist der Fall." Güngör fände es besser, wenn sich Ludwig mit seinen kurdischen Amtskollegen solidarisieren würde, "die entweder in den Gefängnissen darben oder vom Erdoğan-Regime mit allen illegitimen Mitteln bekämpft werden".

"Die türkischen Bemühungen für Frieden in der Ukraine sind wichtig", teilte Michael Ludwig kürzlich seinen Facebook-Followern mit.
TÜRKISCHE PRÄSIDENTSCHAFTSKANZLE

Das Bürgermeisterbüro will die Kritik nicht weiter kommentieren – Menschenrechte und Minderheiten seien bei der Reise ein Thema gewesen, heißt in der SPÖ. Ludwig wird jedenfalls nicht der letzte heimische Politiker bleiben, der den türkischen Staatspräsidenten treffen wird. Schon Ende Juni ist ein Gespräch mit Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) am Rande eines Nato-Gipfels avisiert. Seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine versucht Nehammer, der mit seinem Besuch bei Wladimir Putin für Debatten sorgte, die zerrütteten Beziehungen nach Ankara etwas zu kitten. Dafür sollen Nehammer und Erdoğan zuletzt auch öfter telefoniert haben.

Aus den Fugen geraten

Was gesellschaftspolitisch nach einer Grenzüberschreitung aussieht, wird auf diplomatischer Ebene weit weniger emotional betrachtet. Im Gegenteil, könnte darin am Ende doch ein größerer Nutzen liegen, sagt Emil Brix, Direktor der Diplomatischen Akademie in Wien.

"Es besteht die Notwendigkeit, diplomatische Kontakte aufrechtzuerhalten, selbst wenn man inhaltlich und ideologisch große Differenzen hat", erklärt der einstige österreichische Botschafter in London und in Moskau. Das sei schon im Kalten Krieg zwischen den verfeindeten Amerikanern und Sowjets so gewesen. "Nur ist die heutige Situation viel unübersichtlicher. Wir wissen nicht, wie sich die Weltordnung ändern wird, wir wissen nur, dass sie aus den Fugen geraten ist."

In der Türkei sieht Brix bei aller Kritik nun aber einen "wichtigen Partner". Es habe sich gezeigt, dass sie in der aktuellen Kriegssituation der "wahrscheinlichste Vermittler" sei – trotz ihrer Mitgliedschaft in der Militärallianz Nato. Das zeige der Umstand, dass die Außenminister Russlands und der Ukraine auf türkischem Boden wieder miteinander gesprochen hatten. Daher mache es Sinn, die Türkei in ihrer Rolle zu unterstützen und das türkisch-österreichische Verhältnis zu verbessern, sagt Brix, der einst Klubsekretär des ÖVP-Parlamentsklubs war.

Kreisky und Arafat

Der Diplomat empfindet es sogar als "relativ mutig", wenn Politiker wie Ludwig dieser Tage das Gespräch mit Erdoğan suchen. Wie weit die eigenen Ideale bei solch einem Treffen verbogen werden, müsse jeder für sich entscheiden. Dafür gebe es keine Spielregeln.

Allerdings sei es erwartbar gewesen, dass Kritik auf Ludwig einprassle. "Das war schon bei Bruno Kreisky so, als er Yassir Arafat traf und der Vorwurf kam, dass er einen Terroristen aufwertet und zu einem angesehenen Politiker macht", sagt Brix. "Es braucht immer den Mut, es trotzdem zu machen, und es geht immer darum, was man erreichen will. Vielleicht gelingt es, mit Erdoğan beim derzeit drängendsten Problem Europas, dem Krieg in der Ukraine, eine positive Veränderung herbeizuführen." Dafür alles zu versuchen sei daher absolut richtig. (Jan Michael Marchart, 13.6.2022)