Die Demonstration gegen den "Marsch der Familie" im Rahmen der Pride am Samstag in Wien.

Foto: Kroisleitner

Man hat schon deutlich aufsehenerregendere Aufnahmen von Polizeieinsätzen gesehen. Und doch wirkt das Video, das sich am Wochenende vor allem auf Twitter verbreitete, irritierend. Zu sehen sind darauf mehrere Polizisten, die eine Gruppe von Demonstrierenden abdrängen. Obwohl die Beamten die Situation mit ihrer Körperkraft unter Kontrolle zu haben scheinen, richtet einer der Beamten einen Behälter mit Pfefferspray auf die Demonstrantinnen und Demonstranten und hält ihn mit dieser Zielrichtung für rund 20 Sekunden im Anschlag. Plötzlich drückt er ab und verteilt das Tränengas großflächig auf die Gesichter und Hinterköpfe der Demonstrierenden.

Das vom Twitter-Nutzer Samuel Winter aufgenommene und gepostete Video entstand bei einer "Gegendemonstration zur Gegendemonstration" am Samstag. Denn da ging in Wien die Pride mit rund 250.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern über die Bühne. Wie auch schon in den Jahren davor fand zeitgleich vom Stephansplatz ausgehend der "Marsch für die Familie" statt, eine kleine Kundgebung von Gegnerinnen und Gegnern der Regenbogenparade, mit einer laut Polizei "Teilnehmerzahl im unteren dreistelligen Bereich". Diesem Marsch wiederum stand eine ähnlich große Menge an Gegendemonstrantinnen und Gegendemonstranten gegenüber. Aufgabe der Polizei war es, diese von den "Marsch für das Leben"-Teilnehmern zu trennen.

Bußjäger: "Notwendigkeit lässt sich nicht auf ersten Blick erkennen"

Der Einsatz von Pfefferspray ist der Polizei laut Waffengebrauchsgesetz grundsätzlich erlaubt. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Einsatz verhältnismäßig ist und kein gelinderes Mittel ausreicht. "Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist immer entscheidend", sagt Verfassungs- und Verwaltungsrechtler Peter Bußjäger zum STANDARD. Würden weniger strenge Maßnahmen zur Verfügung stehen, die dieselbe Wirkung entfalten, sei die Benutzung von Tränengas jedenfalls nicht zulässig. "Die Anwendung jeglicher Zwangsmittel muss grundsätzlich immer Ultima Ratio sein", sagt der Jurist.

Sollte es zu einer Beschwerde kommen, müsse das Landesverwaltungsgericht über die Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes entscheiden – auch indem es versuche, die Gesamtsituation zu erheben. Die Polizei müsste in diesem Fall erklären, was der konkrete Anlass für den Tränengaseinsatz war. "Im Video lässt sich die Notwendigkeit des Pfeffersprays jedenfalls nicht auf den ersten Blick erkennen", sagt Bußjäger. "Man hat den Eindruck, dass die Beamten die Situation im Wesentlichen im Griff haben." Mit dem vorliegenden Videomaterial hält der Verfassungsjurist den Polizeieinsatz jedenfalls "mindestens für hinterfragenswert und überprüfenswert".

Unabhängige Beschwerdestelle noch nicht umgesetzt

Laut Wiener Landespolizeidirektion wird der Tränengaseinsatz aktuell intern auf seine Rechtmäßigkeit überprüft, was bei jedem Waffeneinsatz der Exekutive der Fall ist. "Der Polizist entscheidet im konkreten Fall selbst über den Einsatz, im Nachhinein wird er rechtlich überprüft", sagt Polizeisprecher Markus Dittrich zum STANDARD. Der Schutzbereich vor der Demonstration sei am Samstag von den Gegendemonstranten nicht eingehalten worden, sagt Dittrich. Das habe man mehrmals über Lautsprecher kommuniziert und danach mit dem Abdrängen der Gegendemonstration begonnen.

Pfefferspray sei grundsätzlich das gelindere Mittel als der Einsatz von Körperkraft wie etwa ein Fauststoß oder ein Stoß mit dem Bein, so der Sprecher. "Das sind Einsatztechniken, die gegebenenfalls auch zur Anwendung kommen könnten."

Der Fall wirft auch erneut ein Schlaglicht auf die Art der Untersuchung solcher Vorfälle durch die Polizei. Fachleute und Menschenrechtsorganisationen kritisieren seit Jahren, dass Vorfälle von mutmaßlicher Polizeigewalt – oder möglichen Kompetenzüberschreitungen von Beamtinnen und Beamten – nur intern untersucht werden, und fordern eine unabhängige Beschwerdestelle für Polizeigewalt. Die Bundesregierung hat eine solche bereits zugesichert. Existent ist sie aber bislang nicht. (Martin Tschiderer, 13.6.2022)