Zahlreiche Menschen demonstrierten am Wochenende in Köln auch für eine Zukunft der Ukraine in der EU.

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Der zweite Besuch von Ursula von der Leyen in der Ukraine binnen weniger Wochen war überraschend. Die Präsidentin der EU-Kommission hat damit erstens unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass ihre Behörde nicht nur ohne Wenn und Aber zu diesem Land und seinem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj steht, sondern sie das zu ihrer ganz persönlichen Sache macht.

Zweitens setzte die frühere deutsche Verteidigungsministerin vor aller Welt vor Ort – und nicht im sicheren Brüssel – ein überdeutliches außen- und sicherheitspolitisches Signal. Sie hält es mit dem ganzen Gewicht ihres Amtes für nötig, die Bemühungen der Ukraine um möglichst raschen Beitritt zur Europäischen Union zu unterstützen, obwohl sie sicherheitspolitisch kaum Kompetenz hat.

Hohe Hürden

Ende der Woche wird die Kommission bekannt geben, ob das Land einen offiziellen Status als Kandidat für einen Beitritt bekommt. Den erhält ein Land normalerweise erst, wenn die Kopenhagener Kriterien von 1993 erfüllt sind: Stabilität des Staates, funktionierende demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, funktionierende Marktwirtschaft, die Fähigkeit, die EU-Verträge umzusetzen.

Selenskyj drängt seit Beginn des Krieges mit Vehemenz darauf, setzt die EU-Partner moralisch schwer unter Druck. Einen entsprechenden Antrag hat seine Regierung zu Kriegsbeginn gestellt. Nach dem Gespräch mit der Kommissionspräsidentin verstieg er sich sogar zu der Behauptung, dass ein EU-Beitritt für die Zukunft der Europäischen Union und deren Bestand entscheidend sei.

Von der Leyen widersprach nicht. Den ursprünglichen Wunsch, auch der Nato beizutreten, den der russische Präsident Wladimir Putin als Grund für seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine vorgab, hat Selenskyj aufgegeben. Umso mehr rückt nun die Perspektive eines möglichen EU-Beitritts in den Fokus, der eine tiefe Einbindung in den Westen wäre, so wie ein Nato-Beitritt.

EU-Beitritt schafft Nato-Nähe

21 von 27 EU-Staaten – und mit Schweden und Finnland bald 23 – sind Mitglieder der transatlantischen Verteidigungsallianz. Und auch die EU-Staaten sind per Vertrag an eine wechselseitige Beistandspflicht gebunden.

Wer also vom raschen Beitritt spricht oder die Perspektive dafür aufmacht, stürzt die EU unweigerlich in ein sicherheitspolitisches Dilemma. Dabei werden mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. Die wichtigste: Wie stellt man sich eine EU-Mitgliedschaft praktisch vor, wenn große Teile des Territoriums von russischen Truppen besetzt wären? Wie soll ein solches Land, das pro Monat fünf Milliarden Euro Finanzhilfen braucht, im Binnenmarkt bestehen können. Wer zahlt das?

Andere Beitrittswerber wie Nordmazedonien mussten oft viele Jahre warten, ehe sie in konkrete Verhandlungen in Brüssel eintraten. Seit dem Kroatiens 2013 gab es keine EU-Beitritte mehr. Und was ist dann mit Georgien und der Republik Moldau?

Viele Unstimmigkeiten

Die Kommissionspräsidentin ging auf den Beitrittsprozess, für den die EU klare Regeln hat, nicht ein. Sie betonte in Kiew das Positive, die "enormen Anstrengungen". Die Ukraine gehört für sie bereits jetzt zur "europäischen Familie". Aber: Sie sagte auch, dass die Ukraine auf einigen Gebieten, etwa bei Rechtsstaatlichkeit und Korruption, noch großen Nachholbedarf habe. Alles in allem jedoch ließ sie durchblicken, dass Selenskyj mit dem EU-Kandidatenstatus rechnen könne.

Beim EU-Gipfel nächste Woche sollen die Staats- und Regierungschefs dazu eine entsprechende elegante Formulierung finden, einstimmig. Von der Leyens Aktion ist vor dem Hintergrund der Unstimmigkeiten, die es zwischen den Regierungen der 27 Mitgliedstaaten dazu gibt, außergewöhnlich. Nur Polen und die drei baltischen Staaten sind voll dafür, die Ukraine sofort zum EU-Kandidaten zu machen.

Krieg der Worte

Im Westen der Union ist man skeptisch. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz steht seit Wochen in der Kritik, dass er noch immer nicht nach Kiew gereist ist, um Farbe zu bekennen. Er setzt auf vorsichtiges Abwägen, nicht nur beim Liefern von Kriegsmaterial, auch in Sachen "EU-Kandidat". Noch stärkere Bedenken hat der französische Präsident Emmanuel Macron wie auch der Niederländer Mark Rutte. Scholz und Macron telefonieren regelmäßig mit Putin, suchen Wege für einen Waffenstillstand. Der Franzose geriet zuletzt in die Kritik, als er davon sprach, dass man Putin "nicht demütigen" dürfe, ein Vorgriff auf Verhandlungen nach Ende der Kämpfe.

Die Frage eines EU-Beitritts der Ukraine ist so betrachtet vor allem auf der symbolischen Ebene extrem wichtig, denn die Umsetzung dürfte "Jahre und Jahrzehnte" dauern, wie der französische Präsident glaubt. Um das Wort "Kandidat" tobt also ein Krieg der Worte. (Thomas Mayer, 14.6.2022)