Staatschef Emmanuel Macron muss nach der ersten Runde der Parlamentswahl in Frankreich um die absolute Mehrheit seines Bündnisses Ensemble fürchten.

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Auch am Tag danach ist es nicht sicher, wer am Sonntag die erste Runde der französischen Parlamentswahl gewonnen hat. Offiziell liegt die Allianz Ensemble von Präsident Emmanuel Macron mit 25,75 Prozent Stimmen vorn. Die Linksunion Nupes von Jean-Luc Mélenchon kommt auf 25,66 Prozent. Sie behauptet aber, Innenminister Gérald Darmanin habe das Resultat "manipuliert", indem er einzelne Linkskandidaten als unabhängig ausgesondert habe.

Der erste Rang ist an sich nur von symbolischer Bedeutung. Doch die Macronisten wahren beste Chancen, am Sonntag eine Parlamentsmehrheit zu erringen und damit die Regierung zu stellen. Das Mehrheitswahlrecht begünstigt eher Parteien der Mitte. Der Rassemblement National der Rechtspopulistin Ma rine Le Pen erzielte immerhin 18,7 Prozent der Stimmen; im zweiten Wahlgang werden ihr aber nur etwa 20 der 755 Sitze in der Nationalversammlung in Aussicht gestellt.

Macrons Absolute wackelt

Die linke Nupes könnte 150 bis 200 Sitze erobern. Das würde ihr eine massive Oppositionsschlagkraft verleihen – aber nicht die Regierungsmehrheit. Diese könnten eher die Macronisten mit knapp 300 Sitzen erringen. Wenn sie aber die absolute Mehrheit von 289 Sitzen verpassen, wird es mühsam für sie: Dann nämlich müssen sie sich bei einzelnen Abstimmungen auf die konservativen Republikaner (10,4 Prozent) stützen. Und die sind Macron alles andere als gewogen.

Auch wenn die Macron-Allianz auf dem ersten Platz gelandet ist, hat sie einen Rückschlag erlitten. Nach der ersten Wahl von 2017 hatte Macron noch 32,3 Prozent der Stimmen erhalten, sieben Prozent mehr als heute. Das ergab eine komfortable Parlamentsmehrheit.

Möglicherweise wird Macron jetzt nicht mehr so bequem "durchregieren" können. Das entspricht dem Wunsch vieler Franzosen: In einer Umfrage hatten 61 Prozent angegeben, sie wollten Macron keine absolute Mehrheit mehr einräumen. Das ist erstaunlich: In den vergangenen 20 Jahren hatten die Wähler dem frisch gewählten Staatschef noch immer eine parlamentarische Rückendeckung mitgegeben.

Angeschlagener "Jupiter"

Dem aktuellen Präsidenten verweigern sie dies wohl. Macron ist in Frankreich nicht gut gelitten. Dass er sich im Verlauf seines ersten Mandats als "Jupiter" bezeichnet hatte, kam nicht gut an. Der französische Präsident hat zwar eine große Machtfülle, Macron streicht das aber unnötigerweise heraus.

Vielleicht noch gravierender, auch wenn selten thematisiert: Viele Franzosen ärgern sich darüber, dass ihnen der 44-jährige Präsident bei der Stimmabgabe gar keine Wahl lässt. Macron wählen, um die Extremisten zu verhindern: Mit diesem Leitspruch hatte der ehemalige Wirtschaftsminister schon die Präsidentschaftswahl 2017 gewonnen. Bewusst stilisierte er diese zu einem Duell zwischen ihm, dem Mann der Mitte, und der Rechtspopulistin Le Pen. Links- und andere Wähler konnten gar nicht anders, als Macron mit über 66 Prozent in den Élysée-Palast zu entsenden.

Und weil das so gut funktioniert hat, arbeitete Macron seine ganze erste Amtszeit darauf hin, das Duell mit Le Pen 2022 zu wiederholen – in der Gewissheit, dass die Ultranationalistin in dem humanistisch gesinnten Land nie eine Mehrheit erhalten würde.

Bloß haben die Franzosen langsam genug von diesem verkappten Stimmzwang: 70 Prozent der Französinnen und Franzosen lehnten laut Umfragen ein neuerliches Duell Macron – Le Pen ab. Bei der Präsidentschaftswahl im April erhielt Macron weniger Stimmen als fünf Jahre zuvor, nämlich 58 Prozent. Er wurde damit zwar wiedergewählt, doch alle wissen: Es waren Stimmen gegen Le Pen, nicht für Macron. Das äußerte sich vor der Parlamentswahl in einer weiteren Umfrage: 64 Prozent sprachen sich im Mai für eine "cohabitation" des Präsidenten mit einem Premier eines anderen Lagers aus. Das war neu. Denn eine solche politische Zwangsehe ist an sich unbeliebt, sie verheißt Instabilität und Dauerstreit. Dass die Menschen diesem Machtspiel dennoch den Vorzug geben, sagt alles: Sie wollen Macron nicht mehr als Alleinherrscher; sie wollen, dass er die Macht teilt und kontrolliert wird.

Denkzettel für Macron

In der gleichen Umfrage drückten die Befragten auch aus, dass sie Mélenchon eigentlich für zu radikal halten: Nur 38 Prozent sähen ihn als Premier einer "cohabitation". Und wahrscheinlich wird es der trotzkistische Tribun im zweiten Wahlgang auch nicht zum Regierungschef bringen.

Das ändert nichts daran, dass die Frustration über Macron groß ist. Sie erklärt zum Teil die hohe Stimmabstinenz von über 50 Prozent am Sonntag und die Lust der Wählerinnen und Wähler, Macron einen Denkzettel zu verpassen. Aber für ihn stimmen – das werden sie am nächsten Wochenende trotzdem müssen, wenn sie Mélenchon oder Le Pen verhindern wollen. (Stefan Brändle aus Paris, 13.6.2022)