Ruandas Präsident Paul Kagame: Sein Land soll von dem Deal finanziell profitieren.

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Drama bis zur letzten Minute. Die Absicht der britischen Regierung, Asylsuchende in den zentralafrikanischen Kleinstaat Ruanda abzuschieben, hat bis wenige Stunden vor dem für Dienstagmorgen geplanten Abflug der ersten Maschine von London nach Kigali für Aufregung und Proteste gesorgt. Am Montagnachmittag bestätigte das Londoner Berufungsgericht ein am Freitag ergangenes Urteil des High Court, das die Abschiebung für rechtskonform erachtet hatte. Demselben High Court lag allerdings noch ein zweiter Antrag zur Entscheidung vor. Dessen Urteil stand zunächst noch aus. Noch nicht sicher war auch, ob der Flug aus anderem Grund storniert würde. Von den 37 für die Abschiebung ursprünglich vorgesehenen Asylsuchenden zog das britische Innenministerium den Bescheid von 26 wieder zurück. Ob der Flug für die verbleibenden elf Asylsuchenden stattfindet, blieb vorerst noch unklar.

Vor den jeweiligen Gerichtsgebäuden, einem Abschiebungszentrum und dem Innenministerium kam es am Montag zu Protesten hunderter Abschiebungsgegner. Sie halten den von der Regierung Anfang Mai bekanntgegebenen Abschiebungsplan für "unmoralisch" und "illegal". Auch der Erzbischof der anglikanischen Kirche, Justin Welby, sowie der britische Thronfolger Prinz Charles sprachen sich gegen die Pläne der Tory-Regierung unter Premierminister Boris Johnson aus. In einem privaten Gespräch soll Prinz Charles die Absicht am Wochenende als "entsetzlich" bezeichnet haben.

Deal für fünf Jahre

Der zwischen London und Kigali unterzeichnete Vertrag sieht vor, dass die Asylsuchenden nach Ruanda geflogen werden, wo über ihren Antrag entschieden werden soll. Wird er angenommen, können sich die Asylsuchenden in dem zentralafrikanischen Land niederlassen, wo ihnen bei der Eingliederung in die Gesellschaft geholfen werden soll. Bei vielen der infrage kommenden Flüchtlinge handelt es sich allerdings um gar keine Afrikaner – unter den elf für diesen Dienstag Gebuchten befinden sich je zwei Iraner, Iraker und Albaner sowie ein Syrer. Für den Deal, der zunächst fünf Jahre gelten soll, wird London der ruandischen Regierung rund 150 Millionen Euro bezahlen. Solange über den Antrag entschieden wird, sollen die Asylsuchenden in Hotels in Kigali untergebracht werden. Wird er abgelehnt, droht den Antragstellern auch in Ruanda die Abschiebung.

Premierminister Johnson rechtfertigte die Politik seiner Regierung als "Schlag gegen Fluchthelferbanden". Es sei "sehr wichtig, dass das Geschäftsmodell krimineller Banden, die Menschenleben aufs Spiel setzen, gebrochen wird", sagte Johnson. "Und diese Regierung wird das tun." London erwartet von der Maßnahme auch eine abschreckende Wirkung auf sogenannte illegale Einwanderer. Im vergangenen Jahr fanden rund 28.000 Flüchtlinge einen inoffiziellen Weg über den Kanal, in diesem Jahr sollen es bereits 10.000 sein. Johnson räumte heftige Widerstände gegen die Politik seiner Regierung ein: "Wir sind darauf vorbereitet. Wir haben uns für den Kampf eingegraben."

Heftige Proteste

Seit Wochen machen Flüchtlingsorganisationen gegen die Regierungspläne mobil: Sie organisierten Proteste und riefen zweimal Gerichte an. Während des ersten Verfahrens wurde der Regierung unter anderem vorgeworfen, "irreführende und fehlerhafte" Angaben über die Haltung des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) gemacht zu haben. Dies soll nach Regierungsangaben grünes Licht gegeben haben. In Wahrheit kritisiert das UNHCR die britischen Pläne jedoch scharf: Den Asylsuchenden drohe "ernsthafter Schaden"; außerdem sei Ruanda auf die Maßnahme nicht vorbereitet, so die vom UNHCR beauftragte Anwältin Laura Dubinsky.

Zweifel gibt es nicht nur an der Logistik: Aktivisten weisen außerdem auf die zweifelhafte Menschenrechtslage in Ruanda hin. Präsident Paul Kagame wird brutaler und widerrechtlicher Umgang mit Kritikern vorgeworfen. Oppositionspolitiker und Journalisten werden regelmäßig inhaftiert, manche verschwinden spurlos. Ruandas Botschafter in London, Johnston Busingye, versichert indessen, sein Land sei ein "Zufluchtsort für Migranten". Ruanda ist der am dichtesten besiedelte Staat Afrikas – ein Umstand, den Beobachter als eine der Ursachen des dortigen Völkermords vor 28 Jahren betrachten.

Hungerstreik und Selbstmorddrohung

Das Londoner Berufungsgericht bestätigte am Montag das Urteil des High Court vom vergangenen Freitag als "klar und detailliert". Eine der letzten Hürden für die Abstimmung wurde damit aus dem Weg geräumt. Richter Rabinder Singh ließ auch keine Berufung zu seinem Urteil zu. Schon jetzt allerdings steht fest, dass sich der Londoner High Court im Rahmen einer rechtlichen Überprüfung bis Ende Juli noch einmal mit der Materie beschäftigen muss. Rechtsexperten waren deshalb davon ausgegangen, dass die Regierung niemanden zuvor abschieden würde. Mehrere Flüchtlinge befinden sich derzeit im Hungerstreik. Ein iranischer Ex-Polizist drohte im Fall seiner Abschiebung mit Selbstmord. (Johannes Dieterich, 13.6.2022)