Im Grauen Haus sitzt ein Teenager wegen geschlechtlicher Nötigung, beharrlicher Verfolgung, Nötigung und gefährlicher Drohung vor einem Schöffengericht.

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Wien – Er habe ein "unreifes und dysfunktionelles Verständnis von Sexualität", zitiert Martina Hahn, Vorsitzende im Schöffenprozess gegen den 16 Jahre alten Cristian Ganea (Name geändert, Anm.), aus den Jugenderhebungen über den Teenager. Dieses Defizit soll für eine Schulkollegin schlimme Folgen gehabt haben, wirft Staatsanwältin Sonja Herbst dem jungen Angeklagten vor: Er soll die Gleichaltrige, mit der er einige Wochen zusammen war, im Vorjahr sechs Monate lang geschlechtlich genötigt, gestalkt, genötigt und bedroht haben.

"Ich fühle mich schuldig", lässt der 2019 nach Österreich gekommene Rumäne übersetzen. Sein Verteidiger Alexander Deutsch unterbricht: "Sie müssen ihn genau fragen, wozu er sich tatsächlich schuldig bekennt, er drückt sich unklar aus", rät er der Dolmetscherin. Ein guter Rat, denn im Einzelnen ist Ganeas Verantwortung differenzierter. Zur geschlechtlichen Nötigung – er soll dem Mädchen mehrmals auf Brüste und Gesäß gegriffen haben – bekennt sich der Unbescholtene nicht schuldig. Das sei nur während der Beziehung passiert und nicht, wie die 16-Jährige sagt, nach der Trennung. "Teilweise hat sie es auch gewollt, teilweise wusste ich es nicht", beteuert der Angeklagte.

Lost in translation

Dass er sie einmal, nachdem er von der Schule geflogen war, vor dem Gebäude abpasste, am Arm packte und verlangte, sie solle ihn küssen – die angeklagte Nötigung –, bestreitet er ebenfalls. Damals soll das Mädchen eine Panikattacke erlitten haben und musste sogar ins Spital gebracht werden. Auch die gefährliche Drohung sei ein Missgeschick, behauptet der Angeklagte: Die Whatsapp-Nachricht mit dem Satz "Ich werde dich töten" basiere auf einem Fehler des digitalen Übersetzungsprogramms. Einzig zur beharrlichen Verfolgung sagt Ganea: "Ja, ich bin schuldig." Er habe dem Mädchen einen Monat nach der von ihm initiierten Trennung "Liebeserklärungen" geschickt, sagt er.

"Wie haben Sie mit dem Mädchen kommuniziert? Sie ist ja Ungarin", interessiert Vorsitzende Hahn. "Ungarisch ist auch meine Muttersprache", antwortet der Angeklagte. Beisitzer Daniel Rechenmacher stutzt: "Warum haben Sie dann angeblich ein Übersetzungstool gebraucht?", will er wissen. "Ich spreche Ungarisch, aber kann es nicht schreiben", sagt der 16-Jährige. "Aber lesen können Sie es? Dann müsste Ihnen ja aufgefallen sein, dass dort nicht steht, was Sie schreiben wollten?", bohrt Rechenmacher nach, erhält aber keine Antwort.

Wie sich im Laufe des Verfahrens herausstellt, soll Ganea auch zwei weitere Schülerinnen unsittlich berührt haben, was auch der Grund war, warum er von der Schule flog. Es hört sich also eigentlich nach einem klaren Fall an – bis die Zeuginnen auftreten.

Schulfreundin sah "nichts Böses"

Zunächst kommen zwei Schulkolleginnen zu Wort, die mit der 16-Jährigen damals befreundet waren. Die erste sagt zwar, Ganea habe sie "vom ersten Schultag an" berührt, an den Haaren gerissen und sie begrapscht. Eine Zeitlang ging sie deshalb sogar nicht zur Schule. Allerdings verteidigt sie den Angeklagten auch: Sie habe "nichts Böses" gesehen, das mutmaßliche Opfer habe auch nie etwas erzählt.

Die zweite Zeugin wird noch deutlicher: "Ich glaube, dass sie in den meisten Fällen lügt", sagt sie über die 16-Jährige. Sie nennt auch Beispiele: Sie hätte selbst beobachtet, wie das Mädchen mit dem Angeklagten in einem Park freiwillig die Mobiltelefone getauscht habe – später erzählte sie Lehrern, er habe es ihr weggenommen. Ein anderes Mal habe sie einen Knutschfleck am Hals gehabt und ihren beiden Freundinnen stolz erzählt, der Angeklagte habe den verursacht. Nach einem Gespräch mit einer Lehrerin behauptete sie plötzlich, es sei gegen ihren Willen geschehen. Auch die Panikattacke habe einen anderen Grund, glaubt die Zeugin: Der Angeklagte habe die 16-Jährige damals vor der Schule ignoriert, das habe sie geärgert. Es sei auch danach zu solchen Anfällen gekommen, ohne dass Ganea damit etwas zu tun hatte.

Gedankenprotokoll nach Hörensagen

Anschließend treten zwei Lehrerinnen auf. Die erste schildert, dass sie zwei Monate nach einem Gespräch mit der 16-Jährigen ein Gedächtnisprotokoll über die Vorwürfe verfasst habe. Wie, ist Beisitzer Rechenmacher verblüfft: "Da wird jemand der Schule verwiesen, und dann wird es erst zwei Monate später niedergeschrieben? Haben Sie keine Dokumentationspflicht?", fragt er die Pädagogin. "Doch, eine Dokumentation gibt es zu Vorfällen, die wir selbst erlebt haben", verteidigt die Zeugin sich – tatsächlich ist nur festgehalten, dass der Angeklagte auch nach seinem Schulverweis das Gebäude betrat, um Freunde zu sehen. Untätig will die Lehrerin nicht gewesen sein, nachdem sich die 16-Jährige an sie gewandt hatte: Sie habe den Angeklagten zu Gesprächen mit dem Sozialarbeiter, dem Beratungslehrer und dem Schulpsychologen geschickt und seine Mutter einbestellt.

Auf Nachfrage von Verteidiger Deutsch bestätigt die Zeugin, dass die Vorwürfe nur auf den Schilderungen der 16-Jährigen basieren, sie selbst will nie etwas gesehen oder gehört haben. Weder sexuell konnotierte Berührungen noch Zärtlichkeiten, sie habe nicht einmal gewusst, dass die beiden Pubertierenden kurz ein Paar gewesen sind. Dem widerspricht interessanterweise ihre Kollegin, die als Nächstes aussagt: Die andere Lehrerin habe ihr einmal berichtet, sie habe gesehen, wie Ganea und das Mädchen geknutscht hätten. Auch diese Betreuerin hat selbst keine Übergriffe wahrgenommen, erinnert sich aber, dass die 16-Jährige während ihrer Panikattacke relativ ruhig mit ihrer Mutter telefonierte und der Vater, der sie abholte, sagte, es sei nicht das erste Mal, dass die Tochter einen derartigen Anfall habe.

Fehlende Zeugen

Die 16-Jährige kommt via Video zu Wort, als ihre kontradiktorische Einvernahme auf die Wand des Gerichtssaals projiziert wird. Sie sagt zunächst, Ganea habe sie ein- bis zweimal wöchentlich begrapscht. Auf den Vorhalt, dass sie bei der Polizei noch von drei bis vier Vorfällen pro Woche gesprochen hatte, erhöht sie auf dreimal. Der Angeklagte soll sie dabei immer in einem Klassenzimmer vor anderen Schülern an die Wand gedrückt haben, geholfen habe ihr nie wer. Weitere Zeugen kann sie bis auf ihre beiden Freundinnen, die sagen, nie etwas Illegales gesehen zu haben, aber nicht nennen. Sie habe sich aber so gefürchtet, dass sie wochenlang vom älteren Bruder zur Schule begleitet und abgeholt wurde.

Insgesamt dürfte die Aussage des Mädchens aber auch Staatsanwältin Herbst zu schwammig sein. "Für mich ist das jetzt eine schwierige Situation. So eindeutig scheint es jetzt auch für mich nicht zu sein", beginnt sie ihren Schlussvortrag mit Zweifeln, ob sich die geschlechtlichen Nötigungen tatsächlich so abgespielt haben. Lediglich bei der gefährlichen Drohung ist sie sich sicher, beim Anklagepunkt der beharrlichen Verfolgung hat sie Zweifel, ob die Grenze der Beharrlichkeit überschritten wurde – tatsächlich findet sich im Akt nur ein einziger nächtlicher Chatverlauf.

Schuldspruch ohne Strafe plus Bewährungshilfe und Therapie

Der Senat sieht das nach kurzer Beratung ebenso: Ganea wird lediglich wegen der gefährlichen Drohung zu einem Schuldspruch ohne Strafe verurteilt, zusätzlich muss er Bewährungshilfe in Anspruch nehmen und eine Sexualtherapie absolvieren. "Insgesamt dürfte die 16-Jährige psychisch nicht ganz stabil und eine wankelmütige Person sein", begründet Vorsitzende Hahn die rechtskräftige Entscheidung. Auch die Tatsache, dass das Mädchen keine Zeugen der Vorfälle benennen konnte, erscheint Hahn seltsam. Am Stalking-Vorwurf, zu dem der Angeklagte sich ja schuldig bekannt hat, hat die Vorsitzende ebenso Zweifel – sie glaubt dem Teenager, dass er nicht wegen des Mädchens, sondern seiner Freunde bei der Schule gewesen sei, und da völlig unklar sei, wie oft er mit der 16-Jährigen kommuniziert habe, sei auch dieser Punkt freizusprechen. (Michael Möseneder, 14.6.2022)