Vom Schwimmen in der Wolga holt sich eine Hauptfigur Chlamydien im Auge: Autorin Helene Hegemann (30) greift literarisch in die Vollen.

Foto: Joachim Gern

"Wenn Sie alles, was jetzt kommt, für einen willkürlichen inneren Monolog halten, wenn Sie wünschten, das wäre ein wenig linearer, wenn Sie das als ungeregelte Aneinanderreihung von Fehlwahrnehmungen aburteilen, statt zu akzeptieren, dass es sich um eine Geschichte handelt, dann wissen Sie nicht, was Leben ist, und dann wissen Sie nicht, dass man das Leben abtötet, sobald man es in ein Schema aus drei Akten presst." Nach 170 Seiten des neuen Erzählbands Schlachtensee von Helene Hegemann mutet die Passage auch ein wenig wie Selbstverteidigung an. Denn er ist ein wilder Ritt.

Noch vergleichsweise simpel ist die erste Geschichte des Bandes über eine Surferin mitzuverfolgen, die von ihrem Vater erfährt, dass er sterben wird. Es geht in der Folge aber weniger um den Verlust als vielmehr um Männlichkeitsbilder. Der trainierte "Männerkörper, der sich seiner eigenen Erschöpfung nicht bewusst ist", eines Surfers am Strand gerät in Kontrast zum kranken Vaterkörper und brutalen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg.

Die 15 ballastreichen, mit Sex und Macht aufgeladenen Seiten, die in einem Hauch von szenischem Nichts enden, sind symptomatisch für das Buch. Hegemann fährt große Geschütze auf, Bedeutung sprüht, Sprachbilder überschlagen sich, einzelne Motive geraten interessant, doch am Ende weiß man oft nicht recht, Zeuge welchen Geschehens man gerade war und was es zu bedeuten hatte. Alles ist originell, zuweilen aber frustrierend disparat.

Wildschweine und Hitler

In einer der 14 Geschichten soll ein Blässhuhn mit krankem Bein gerettet werden, die dazu auserkorenen, Drogen zugeneigten Freunde stellen sich dabei aber nicht allzu geschickt an und werden in einer albtraumhaften Szene von Wildschweinen eingekesselt. In einer Story geht es um eine Aussteigerkommune reicher Kids. In einer anderen verschläft eine junge Frau immer wieder die Zughaltestelle ihres Elternortes, wobei sie dort ohnehin nicht so recht ankommen will. Die Geschichte spielt übrigens in Österreich. Die Gegend charakterisiert, dass in der Nähe das Bergbauerndorf liegt, "in dem Hitler gerne seine Ferien verbracht hat, man spürt den da irgendwie auch immer noch".

Ideologisch erkennt man eine klare Stoßrichtung: Es geht um die Ungerechtigkeit in der Welt, um Dekadenz ("Sie fragt sich, warum Small Talk zwischen elitären Westlern immer übergangslos vom Weltgeschehen zum Thema Essen abdriftet"), kolonialistische Selbstfindungstrips nach Ägypten. Ein an einen Stuhl geklebter Popel ist potenziell subversive "Reaktion auf die Bestrebungen, die Welt zu einem System zu machen, das zweckdienlich, plausibel und bis ins Letzte kalkulierbar ist". Werbeplakate für Mode sind "Softpornos, die behaupten, sie würden die Emanzipation einer souveränen Frau illustrieren". Dieser Blick auf Gesellschaft ist abgeklärt, bissig, kritisch, ironisch.

Das war schon so, als Hegemann 2010 mit einem Tusch im Betrieb aufschlug. Das in der Berliner Kulturboheme spielende Romandebüt Axolotl Roadkill der damals 17-Jährigen wurde erst für seine Intensität gelobt und – als bekannt wurde, dass sie dafür reichlich fremdes Material geklaut hatte – in den Boden gestampft. Wohlstandsverwahrlosung, Drogen, Sex gehören seitdem zu Hegemanns Themen. Mit Bungalow über Klassenunterschiede war die Autorin, die auch Filme dreht und deren Vater der bekannte Dramaturg Carl Hegemann ist, 2018 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Theorie und Erschütterung

Nur als Pose eines wohlhabenden Sprosses kann man den Drang zum Prekären aber nicht abtun. Ehe Hegemann mit 13 zum Vater zog, den sie kaum kannte, wuchs sie bei ihrer schizophrenen Mutter in der Sozialwohnung auf. Sie empfand sich als Außenseiterin. Diese Zeit beschrieb Hegemann 2021 in ihrem Buch über Patti Smith: Beim Vater traf sie Christoph Schlingensief, reiste zu Proben am Burgtheater. Ihre Bandbreite von Theorie bis Erschütterungen ist biografisch legitimiert.

Manche Figuren tauchen in Schlachtensee wiederholt auf, manche Geschichten spielen heute, manche in einer Zukunft, in der 3D-Drucker Kunst so gut fälschen, dass Kopien nicht vom Original zu unterscheiden sind. "Seit wann kann eine Maschine Patina?", fragt der damit konfrontierte Experte. Es scheint, als wollte Hegemann mit Punk einer Welt der Oberflächen Patina geben: Eingeschworene Grüppchen statt digitale Entgrenzung, Gangster statt Instagram, man schläft mit dem Mann der Freundin statt mit einem von Tinder. Insgesamt etwas überspannt, steckt in solchen Details des Bands viel Kraft. (Michael Wurmitzer, 15.6.2022)