Die Silvrettagruppe in den zentralen Ostalpen beherbergt mehr als 300 benannte Gipfel. Dazwischen schmelzen viele kleinere und größere Gletscher vor sich hin. Hier links hinten ist der Jamtalferner, dessen Gletscherzunge heute bis auf etwa 2450 Meter herunter reicht.

Foto: BOKU/Sandra Braumann

Die Gletscher der Silvretta-Gruppe zwischen Tirol, Vorarlberg und dem Schweizer Kanton Graubünden blicken auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Insgesamt befinden sie sich seit dem Höhepunkt der letzten Eiszeit auf dem Rückzug, sie konnten sich aber dann und wann auch wieder längerfristiger stabilisieren oder sogar weiter vorstoßen. Das zeigt eine neue Analyse von Forschern im Fachjournal "Scientific Reports".

Rekonstruierte "Kälterückfälle"

Das Team um Sandra Braumann vom Institut für Angewandte Geologie der Universität für Bodenkultur (Boku) Wien wollte in Zusammenarbeit mit Kollegen von der Columbia University (USA) herausfinden, wie es Gletschern geht, unter der Einwirkung des wärmer werdenden Klima seit dem letzten glazialen Maximum vor rund 22.000 Jahren.

Zumindest bis zum Ende der "Kleinen Eiszeit" um 1850 war die Entwicklung keineswegs kontinuierlich, es gab auch "Kälterückfälle". Diese lassen sich erfassen, indem man nach geologischen Überbleibseln von Gletscherablagerungen, sogenannten stabilen Eisrandlagen (Moränen) in der Landschaft sucht. So lässt sich rekonstruieren, bis wohin das Eis einst gereicht hat.

Wird Gestein, das vom Gletscher an den Eisrand transportiert wurde, im Zuge des Gletscher-Rückzuges freigelegt, ist es hochenergetischer kosmischer Strahlung ausgesetzt, die bewirkt, dass sich in Quarzmineralien das Isotop Beryllium-10 bildet. Je länger das Gestein exponiert ist, desto mehr Beryllium-10 entwickelt sich darin.

Gletscher bis in die Täler

Dessen Konzentration kann dann gemessen und so das Ablagerungsalter und einstige Ausdehnung der Moräne bestimmt werden. Da die Gesteine der Silvretta-Gruppe viele Quarzminerale beherbergen, hat das Team um Braumann die dortige Situation unter die Lupe genommen, erklärte die Forscherin.

Die Methode der Beryllium-10 Expositionsdatierung erlaubt es, kältere Perioden in den vergangenen rund 15.000 Jahre dort sehr genau zu rekonstruieren, so Braumann. Besonders interessant ist die Zeit ab rund 12.000 Jahren vor unserer Zeit, "als es wirklich rapide wärmer geworden ist". Unmittelbar davor bedeckten die Gletscher in einer längeren Kälteperiode – der Jüngeren Dryaszeit vor etwa 12.900 bis 11.700 Jahren – auch die Talböden des Gebiets. Die Gletscherzunge des Jamtalferners lag damals wohl in etwa auf der Höhe des auf rund 1.550 Metern Seehöhe gelegenen Tiroler Ortes Galtür. Heute liegt sie fast tausend Meter höher.

Die Darstellung zeigt mögliche Ausdehnunge der Silvretta-Gletscher während unterschiedlicher Zeitalter:
a) Jüngeres Dryaszeit vor etwa 12.900 bis 11.700 Jahren
b) frühes Holozän vor etwa 12.000 bis 10.000 Jahren
c) um die Zeit vor 10.000 Jahren und während der Kleinen Eiszeit von 1250 bis 1850
d) in den Jahren 2015/16
Grafik: BOKU/Sandra Braumann

Rascher Rückzug nach der Eiszeit

Am Anfang der darauffolgenden Warmzeit, dem frühen Holozän, zogen sich die Gletscher innerhalb weniger Jahrhunderte rasch zurück, so Braumann. Vor rund 11.000 Jahren folgte dann aber eine Stabilisierung, die die Forscher auf das Abschmelzen der großen nordamerikanischen Eisschilde zu jener Zeit zurückführen. Das brachte nämlich mehr Süßwasser in den Nordatlantik, was die warme Meereszirkulation nach Europa abschwächte und in unseren Breiten trotz Gesamt-Erwärmung eine zeitweise Abkühlung brachte.

Baumfunde in einem Moor im Bereich der Bielerhöhe beim Silvretta-Stausee aus der Zeit von vor 7.500 bis 7.000 Jahren auf rund 2.150 Metern Seehöhe, die in einer vorangegangenen Studie von Forschern um Kurt Nicolussi von der Universität Innsbruck analysiert wurden, lassen aber auch auf eine frühere sehr warme Phase schließen. Wie weit die Gletscher sich damals zurückgezogen haben, könne man mit der Beryllium-10-Methode aber nicht sagen.

600-jähriger Kälteeinbruch

Nochmals fast vergleichbar mit dem Zustand stärkerer Vereisung am Beginn des Holozäns war die Ausdehnung zuletzt in der "Kleinen Eiszeit" von cirka 1250 bis 1850 unserer Zeitrechnung. In diesen Ablagerungen fanden sich allerdings auch Hinweise, dass es rund um das fünfte Jahrhundert unserer Zeitrechnung eine ähnlich große Eisausdehnung gab. Das geht mit der damaligen Völkerwanderung einher, die womöglich durch kühlere Temperaturen ausgelöst wurde.

Blickt man auf frühere massive und rasche Temperaturanstiege, die u.a. durch Veränderungen der Sonneneinstrahlung natürlich verursacht wurden, erlaube das Rückschlüsse auf das Klimasystem im sich erwärmenden Zustand.

Sensible Eismassen

Informationen zum Tempo und der Größenordnung der natürlichen Gletscher- und Klimaänderungen während des Übergangs von der letzten Eiszeit in die aktuelle Warmzeit bieten Vergleichswerte für unseren aktuellen starken und erstmals vom Menschen verursachten, rapiden Erwärmungstrend. "Allerdings starten wir jetzt aus keiner Eiszeit heraus", so Braumann. Insgesamt zeigt auch die neue Analyse, wie sensibel die Gletscher in den Alpen auf Klimaveränderungen reagieren und wie massiv sich die menschlichen Aktivitäten hier auswirken. (red, 16.6.2022)