Zur Feier der Aufhebung des Mindestalterparagrafen hissten Ulrike Lunacek (links) und Terezija Stoisits (rechts) von den Grünen im Juni 2002 vor dem Parlament ein Plakat – und zerrissen es anschließend.

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Als Michael Woditschka, damals 19 Jahre alt, 1999 in einer Disco einen 17-jährigen Burschen kennenlernte, war er sich der Gefahr, in der er schwebte, nicht bewusst. "Es war eine kurze Beziehung, wie viele sie in dem Alter haben. Von Paragraf 209 StGB hatte ich davor noch nie gehört", erinnert er sich heute.

Dreieinhalb Jahre später, 2003, war sein Gerichtsfall eine von zehn Causen, die zu einer Verurteilung Österreichs durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg wegen des Paragrafen gegen "gleichgeschlechtliche Unzucht" führten. Dieser bedrohte Sex von über 19-jährigen mit unter 17-jährigen Männern mit bis zu fünf Jahren Gefängnis – und war zu diesem Zeitpunkt schon außer Kraft: Der Verfassungsgerichtshof hatte die Bestimmung am 6. Juni 2002 gekippt.

Als Woditschka sich verliebt hatte, hatte die Bestimmung hingegen noch gegolten. Sein Freund wurde mit einem anderen im Auto aufgestöbert und auf der Wache unter Druck gesetzt. Er nannte Namen, Woditschka wurde vorgeladen: Laut Paragraf 209 StGB galt er, der Ältere, als einer Sexualstraftat verdächtig.

Michael Woditschka musste vor Gericht.
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"Unzucht" auf der Spur

Schrecklich sei das Verhör gewesen, schildert er. Um der "Unzucht" auf die Spur zu kommen, hätten ihn die Polizisten nach intimen Details gefragt. Ebenso unangenehm sei die Gerichtsverhandlung ausgefallen, die mit einer Geldstrafe endete. Vor Vertretern sämtlicher Medien sei das Protokoll "in voller Länge vorgelesen worden". Danach habe er anonyme Drohanrufe erhalten, erzählt der heute 39-jährige selbstständige Trainer und Coach.

Schlimmer noch spielte Paragraf 209 StGB Josef (Name geändert) mit. Aus seiner Wohnung heraus wurde er eines Abends im Jahr 2000 festgenommen und für zwei Wochen in Untersuchungshaft gesteckt. Sein damaliger Freund war bei einem Ladendiebstahl erwischt und unter Druck gesetzt worden. Dass der Freund 15, Josef hingegen 35 Jahre alt war, ließ den Fall in der damaligen Optik besonders schwer erscheinen. Hätte es sich um eine 15-jährige Freundin gehandelt, wäre jedoch gar kein Delikt angenommen worden: Das Mindestalter für Heterosexuelle und Lesben lag damals bei 14 Jahren.

Auch Josefs Fall wurde letztlich vom EGMR gekippt. Doch die Sache hatte ein furchtbares familiäres Nachspiel. Josefs Eltern, die nichts von der sexuellen Orientierung ihres Sohnes gewusst hatten, erkannten ihn trotz Anonymisierung in einem Bezirksblatt-Bericht. Zwar hielten sie zu ihm, doch der gebürtige Salzburger vermutet bis heute, dass der Suizid seiner Mutter mehrere Jahre danach mit den Verfahren zu tun hatte.

Mühsames Nachspiel

Die Verwerfungen durch den Paragrafen hätten auch mit seiner Abschaffung nicht geendet, sagt der Wiener Anwalt Helmut Graupner, der die Causen vor zwanzig Jahren vor den EGMR gebracht hat. Um etwa die Vorstrafeneintragungen wegen des 209ers zu tilgen, habe es eines weiteren Verfahrens in Straßburg bedurft – und Entschädigungen seien bis heute nicht geflossen.

Immerhin entschuldigte sich Justizministerin Alma Zadić im vergangenen Jahr für die Ungleichbehandlung der LGBTQ+-Community. Zuletzt kündigte sie eine Aufarbeitung der Zeit nach 1945 an. Aufschluss soll ein historisches Gutachten geben, das die "aus heutiger Sicht menschenrechtswidrigen" Gesetze sowie ihre politische Entstehungsgeschichte unter die Lupe nehmen soll. Von 1955 und 1971 galt für Homosexualität ein Totalverbot, rund 25.000 Menschen wurden verurteilt, weil sie Sex mit Menschen desselben Geschlechts hatten. Das Totalverbot wurde durch ein Werbe- und ein Vereinsverbot sowie Paragraf 209 StGB ersetzt. Zwischen 1971 und 2002 wurden noch einmal rund 26.500 Menschen nach diesen Delikten verurteilt.

Die Grüne Ewa Ernst-Dziedzic ließ kürzlich aufhorchen, als sie im Interview mit dem STANDARD sagte, der politische Wille zu ebendiesen Entschädigungen sei da. Und mehr noch, man habe sogar schon ein Budget erhoben: 700.000 Euro brauche man dafür.

Frage des Geldes

Auf Nachfrage sagt sie nun, das sei der "größtmögliche Rahmen", man sei dabei, konkrete Daten zu erheben, wer wegen welcher Paragrafen verfolgt wurde und wer von den Opfern noch am Leben sei. Und: "Unser Ziel ist es, das bald abzuschließen".

Nico Marchetti, der für die ÖVP im Gleichbehandlungsausschuss sitzt, sagt allerdings, es gebe da noch keine konkrete Einigung zwischen den Koalitionspartnern, gesprächsbereit sei man aber. Aus dem Büro der Justizministerin heißt es zu alledem recht vage: Zadić verstehe und befürworte den Wunsch nach Entschädigungszahlungen für die strafrechtliche Verurteilung Homosexueller. Die Ministerin werde sich "in den nächsten Budgetverhandlungen dafür einsetzen, ausreichend Budgetmittel für dieses wichtige Anliegen zu bekommen". (Muzayen Al-Youssef, Irene Brickner, Gabriele Scherndl, 15.6.2022)