Olha Stefanischyna begrüßt die Solidaritätsbekundungen der befreundeten Staaten. Was sie aber lieber sehen würde, wäre "ein bisschen mehr realistische Wut".

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Olha Stefanischyna ist stellvertretende Regierungschefin der Ukraine, sie ist verantwortlich für die Beziehungen zur Europäischen Union. Zum jetzigen Zeitpunkt fordere sie keinen schnellen Beitritt der Ukraine, sondern lediglich eine Entscheidung, die dem Land den Status eines Kandidaten verleiht.

STANDARD: Die EU wird in diesen Tagen über den Beitrittsantrag der Ukraine entscheiden. Was ist Ihre Erwartung?

Stefanischyna: Nun, die EU-Kommission hat eine positive Entscheidung über die Ukraine empfohlen und kundgetan, diese selbst auch zu unterstützen. Aber der wichtigste Tag ist natürlich der Gipfel am 24. Juni. Wir wissen nicht, was passieren wird. Wir sehen, dass die Mehrheit der EU-Staaten die Substanz der aktuellen Ereignisse verstanden hat. Aber es gibt nach wie vor einige Mitgliedstaaten, die sich hinter unbedeutenden Argumenten verstecken. Die Debatte wird intensiv sein im Vorfeld des Gipfels.

STANDARD: Gibt es andere Optionen außer die EU-Mitgliedschaft, die für die Ukraine akzeptabel wären? Etwa eine Art "Nachbarschaft plus"?

Stefanischyna: Die Sache ist, dass wir bereits alle möglichen Instrumente bis zum formellen Antrag auf Mitgliedschaft durchlaufen haben. Wir wollen beitreten. Wir wollen die EU stärken. Und wir brauchen eine rechtlich bindende Entscheidung – weil wir wissen, dass Kompromisse verpuffen.

STANDARD: Scholz, Macron und Draghi kommen nach Kiew – sie alle haben mit Putin telefoniert. Sie alle haben angedeutet, dass eine diplomatische Lösung gefunden werden sollte. Ist das realistisch?

Stefanischyna: Nun, wir warten auf diesen Besuch. Und natürlich ist das Ziel, den Krieg zu beenden, die wichtigste Frage. Für uns ist es wichtig, dass eine Einigung letztlich die Ukraine stärkt. Wir befinden uns ja bereits in Verhandlungen. Aber eine konsensuale Einigung hat keine Chance. Es gibt keine Möglichkeit, Teile unseres Territoriums abzutreten, es gibt keine Vergebung für Verbrechen. Es gibt nur einen Weg, diesen Krieg zu beenden, und der ist, diesen Krieg zu gewinnen. Das sollte den politischen Führern klar sein.

STANDARD: Aber haben die Staats- und Regierungschefs der EU verstanden, womit sie es zu tun haben im Umgang mit Russland?

Stefanischyna: Ich denke, die Einsicht ist noch nicht ganz da. Es gibt immer noch den Glauben, dass ein Deal mit Wladimir Putin möglich ist. Wir haben Vereinbarungen wie Minsk I oder Minsk II gesehen, nur sie haben nie zu einem Ende des Krieges geführt. Sie haben Russland lediglich die Möglichkeit verschafft, sich auf diesen Krieg vorzubereiten. Wir sollten dieses Missgeschick nicht wiederholen.

STANDARD: Die Europäische Union ist sich in der Frage des Beitritts der Ukraine im Moment aber offensichtlich alles andere als einig. Wo sehen Sie die größten Hürden – inhaltlich, aber auch geografisch?

Stefanischyna: Ich möchte klarstellen, dass es uns nicht um einen schnellen Beitritt geht. Wir streben das nicht an. Tatsache aber ist, dass wir die meisten Reformen, die wir in den letzten zehn Jahren durchgeführt haben, gemeinsam mit der EU durchgeführt haben. Es wurde also bereits eine Menge Arbeit geleistet. Wir hören natürlich die verschiedenen Argumente betreffend den Westbalkan oder anderer Themen – und wir haben Gegenargumente. Aber der wichtigste Punkt ist, dass wir nicht nach einem bestimmten Datum fragen. Wir unterminieren auch nicht den Beitritt eines anderen Landes. Jetzt fordern wir lediglich eine Entscheidung, die der Ukraine den Status eines Kandidaten verleiht. Den Ukrainern muss eine Antwort gegeben werden.

"Es gibt nur einen Weg, diesen Krieg zu beenden: diesen Krieg zu gewinnen."

Olha Stefanischyna

STANDARD: Es ist ziemlich populär geworden, Putin anzurufen. Könnte es sein, dass der Preis für eine positive Antwort der EU an die Ukrainer Minsk III ist?

Stefanischyna: Es muss ein Abkommen geben. Aber das kann nicht zu unserer Kapitulation führen. Das Ausmaß des Terrors, das die Menschen gesehen haben, erlaubt es uns nicht zu kapitulieren.

STANDARD: Warum ist die EU so wichtig für die Ukraine, wenn doch eigentlich die Nato das Bündnis ist, das das dringendste Bedürfnis der Ukraine abdeckt: das Thema Sicherheit?

Stefanischyna: Es ist ganz einfach. Am 24. Februar sind wir aufgewacht und haben verstanden, dass die Welt nicht mehr dieselbe ist. Alle konventionellen Mechanismen und Institutionen waren nicht in der Lage, diesen Krieg zu verhindern. Die Staaten, die die Fähigkeit und auch den Willen dazu hatten, haben sich in der Folge engagiert. Und die EU ist in der Lage, in diesem Konflikt die Führung zu übernehmen. Die Nato dagegen hat sich eher phlegmatisch verhalten. Genau dieser Unwille hat zu drei Kriegen geführt, von denen zwei auf ukrainischem Boden stattfanden.

STANDARD: Es gibt große verbale Solidarität, es gibt Sanktionen gegen Russland, es gibt Maßnahmen. Ist das ausreichend? Was braucht es noch?

Stefanischyna: Was wir gerne sehen würden, wäre ein bisschen mehr realistische Wut. Wir erhalten viele negative Signale, dass die Sanktionen kompliziert sind und die Menschen müde werden. Und diese Probleme werden an der Ukraine festgemacht. Aber dieser Krieg wurde von Russland angezettelt. Wir verstehen, dass die Dinge kompliziert sind. Aber all das kann nicht darin münden, dass wir letztlich dazu gedrängt werden, einem Minsk III zustimmen. Ich wünsche mir, dass all diese Probleme in all ihrer Komplexität in sehr klare Botschaften an die Russische Föderation umgesetzt werden. (Stefan Schocher, 15.6.2022)