Kanzler Karl Nehammer krempelt das Steuersystem um.

Die größte Steuerreform aller Zeiten. Damit ist nun endgültig Schluss. In regelmäßigen Abständen haben Regierungen in den vergangenen Jahren, ob nun Rot-Schwarz, Türkis-Blau oder Türkis-Grün, die ganz große Entlastung für Bürgerinnen und Bürger verkündet. 2009 war das der Fall oder 2016, zuletzt 2021. Nicht dazugesagt wurde freilich stets, wie ein großer Teil dieses Geldregens finanziert wurde: über die kalte Progression. Ein Phänomen, das regelmäßig dafür sorgte, dass dem Staat auch bei gleichbleibenden Steuersätzen sukzessive mehr Geld in die Kasse gespült wurde.

Damit soll ab 2023 Schluss sein. Der teuerste und überraschendste Punkt im türkis-grünen Entlastungspaket sieht die Abschaffung der schleichenden Steuererhöhungen, der kalten Progression, ab 2023 vor. Bis zu 20 Milliarden Euro soll das den Staat kosten oder Bürgerinnen und Bürgern bringen.

Was auf den ersten Blick wie eine weitere Entlastung aussieht, wird tiefgreifendere Auswirkungen haben. Der budgetäre Spielraum des Staates, um Geld umzuverteilen oder zu investieren, wird zwar nicht verschwinden, wohl aber deutlich kleiner werden. Das ist keine Kleinigkeit, genau dazu ist der Staat in einer sozialen Marktwirtschaft ja letztlich im Wesentlichen da. Pro Prozentpunkt Teuerung spülte die kalte Progression dem Finanzminister in der Vergangenheit rund 300 Millionen Euro im Jahr zusätzlich in die Kasse. So lautet eine Faustregel in Österreich. Bei hoher Inflation kam da etwas zusammen: In der Zeit 2009 bis 2015, als die Inflation noch nicht so niedrig war wie in den Jahren danach bis zum aktuellen Anstieg, summierten sich die Mehreinnahmen beim Finanzminister so auf fast acht Milliarden Euro.

Das erleichterte nicht nur die wiederkehrenden Steuersenkungen. Der Staat konnte hohe Ausgaben leichter schultern, etwa bei einer Krise, weil er wusste, dass sowieso bald wieder mehr Geld reinkommt. Künftig wird der Finanzminister nur noch von der "warmen Progression" profitieren: Diese besteht aus höheren Steuereinnahmen, die zum Beispiel entstehen, weil mehr Menschen in Beschäftigung kommen und damit mehr Steuern zahlen. Eine Folge der Änderungen könnte sein, dass der Staat, um dringend notwendige Ausgaben zu finanzieren, entweder sparen oder Steuern erhöhen wird müssen.

Eingriff in der Zukunft

Dazu kommt, dass nicht nur der aktuelle Spielraum der Politik eingeengt wird. "Die Regierung greift auch in die Steuerpolitik künftiger Regierungen ein, weil auch diese gebunden werden", sagt der Steuerrechtler Werner Doralt. Der künftige Gesetzgeber könnte die kalten Progression zwar wieder einführen. "Realpolitisch sind die Chancen dafür aber gering", sagt Doralt.

Auch die sozialen Auswirkungen dürften groß sein: Eine exakte Berechnung zur Verteilungswirkung gibt es noch nicht. Aber klar ist, dass vor allem die Mittelschicht durch das Aus für die kalte Progression gewinnen wird. Das Ende der automatischen Steuererhöhungen wird relativ zu ihren Einkommen die untere Mittelschicht stärker entlasten, in absoluten Beträgen aber vor allem die obere Mittelschicht, sagt Simon Loretz, Experte beim Forschungsinstitut Wifo. An diesem Gesamtbild wird auch wenig ändern, dass auch gewisse steuerliche Absetzbeträge künftig an die Inflation angepasst werden, die auch jene Menschen bekommen, die so wenig verdienen, dass sie gar keine Steuern zahlen.

Die Änderung wird auch das Steuersystem selbst umkrempeln. Bisher zielte dieses darauf ab, jene höher zu belasten, die mehr verdienen. Nun erfolgt de facto eine Umstellung. Höher besteuert wird künftig, wer mehr Kaufkraft zur Verfügung haben wird. Eine Folge davon ist, dass es künftig automatisch auch zu Steuersenkungen für bestimmte Gruppen kommen wird.

Das kommt so: Künftig sollen die einzelnen Steuerstufen automatisch angepasst werden, und zwar so, dass im Umfang zwei Drittel der höheren Inflation abgegolten werden. Ein Beispiel: Aktuell zahlen Menschen, die nach Abzug der Ausgaben zur Sozialversicherung 11.000 Euro im Jahr verdienen, keine Einkommenssteuern, darüber steigt dann der Steuersatz stetig an.

Die Wertgrenzen dafür, nicht der Steuertarif selbst, sollen künftig mit der Inflation mitwachsen. Bei Inflation von angenommen heuer sechs Prozent würden vier Prozent als automatische Anpassung weitergegeben werden: Statt jetzt 11.000 Euro, würde die Steuerbefreiung bis zu einem Betrag von 11.440 Euro gelten. Diese Anpassung soll künftig bei sämtlichen Steuerstufen gelten, außer der höchsten. Auch wer 2023 nicht mehr verdient, etwa nach einem Jobwechsel oder nach einer Karenz, wird von dieser Anhebung der Wertgrenzen profitieren.

Grüner Vorbehalt

Wobei es noch ungelöste Punkte gibt. Während zwei Drittel der Abgeltung automatisch erfolgen, ist geplant, das restliche Drittel verpflichtend auszuschütten. Wie, will sich die Politik vorbehalten: Die Entscheidung dazu muss von Jahr zu Jahr im Parlament getroffen werden. Diesen Punkt haben die Grünen ausverhandelt, um mit diesen Mitteln weiter politische Akzente setzen zu können.

Aber was, wenn sich die Regierung 2023 nicht einigt, wer hier entlastet werden soll? Politisch vereinbart wurde bisher nur, dass auch dieses Geld Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern oder Pensionisten und Pensionistinnen vorbehalten ist. Es bleibt abzuwarten, wie hier die gesetzliche Ausgestaltung aussehen soll, bisher liegt ja bloß eine politische Einigung zum Ende der kalten Progression vor.

Fix ist jedenfalls, dass die Entlastungen einiges kosten werden. Laut Berechnungen des Finanzministeriums dürfte die staatliche Neuverschuldung heuer von erwarteten 3,1 auf vier Prozent gemessen an der Wirtschaftsleistung BIP steigen. Hier machen sich noch die übrigen Entlastungsmaßnahmen bemerkbar. Im kommenden Jahr werden es dann statt 1,5 gleich 2,4 Prozent sein, wobei der größte Teil des Anstiegs dann auf den Effekt durch die Abschaffung der kalten Progression zurückzuführen sein wird.

Laut Finanzministerium sollen sich übrigens etwas mehr als 80 Prozent der Entlastungen selbst finanzieren: Weil mehr Steuern hereinkommen durch den erwarteten Anstieg der Inflation und weil die Maßnahmen zusätzlich die Wirtschaft beleben. Aus heutiger Sicht soll demnach die Gegenfinanzierung für rund vier Milliarden Euro offen sein. (András Szigetvari, 14.6.2022)