Natalie Stebbing ist Pâtisseriere aus Leidenschaft und Chefin der Pâtisserie im Hotel Sacher.

Foto: Regine Hendrich

Die schwere Tür aus Gold und Glas schwingt auf. Die Herren hinter der Rezeption grüßen freundlich. Sie sind die Hüter der geheimen Welt des Hotel Sacher gleich hinter der Wiener Oper. Ungestört und exklusiv sollten die Gäste hier logieren. Deshalb ließ die ehemalige Inhaberin, die Geschäftsfrau und leidenschaftliche Züchterin französischer Bulldoggen Anna Sacher, das Hotel bei ihrer Übernahme im Jahr 1892 umbauen: hunderte Gänge, viele kleine Räume und Treppen über Treppen.

Über eine dieser Stiegen geht es auch hinab in den Keller, wo sich Küche und Patisserie befinden. Es riecht nach frisch gewaschenem Geschirr, alles ist weiß und steril. Wie in einem Ameisenbau wuseln Kellner, Köche und Konditoren perfekt akkordiert, ohne viele Worte hin und her. "Als ich zurückkam, war das ganz anders: Alle klatschten, jubelten, und Sektkorken knallten." Die Chef Patissière des Hotel Sacher Natalie Stebbing rekapituliert den Moment der Rückkehr nach ihrem Abenteuer in Deutschland. Dort gewann sie am 15. Mai 2022 mit ihrem Teamkollegen Michael Klein die Realityshow Das große Backen – Die Profis. Sechs Teams backten dort im Laufe der Sendung um die Wette.

Apfelstrudel und Sachertorte

300 Kilogramm geschnittene Äpfel liegen heute auf der großen Marmor-Arbeitsplatte inmitten des kleinen Raumes – der Patisserie im Hotel Sacher. Dienstags und donnerstags ist Apfelstrudeltag. "Ich habe schon oft ausgefallene Stück-Desserts kreiert, aber unsere Gäste essen hier halt gern Apfelstrudel und Sachertorte." Die berühmte Torte mit Schokoglasur wird aber nicht mehr im Hotel hergestellt, die Mengen wären in der kleinen Küche gar nicht zu bewältigen. Die wöchentlich rund 7000 Torten werden stattdessen in der Manufaktur im elften Wiener Gemeindebezirk produziert.

Süße Backwaren, gefertigt von Natalie Stebbing und Team
Foto: Regine Hendrich

Für besondere Gäste fertigen sie in der Patisserie auch große, kunstvolle Schokoladen-Schaustücke als Dekoration für die Zimmer an. Als beispielsweise der Chef des emiratischen Luxushotels Burj Al Arab einmal im Hotel Sacher residierte, bauten die Konditorinnen ein Schokoladenmodell des 321 Meter hohen Hotels nach. Ob die Hingabe und das Können von Natalie Stebbing und ihrem Team von den Gästen gewürdigt werden, bleibt unklar. In den meisten Fällen kommt die Schokoladenkunst nach Abreise der Gäste unangetastet zurück.

Sauerampfer-Joghurt-Tarte – Stebbing blüht auf, wenn sie sich mit ungewöhnlichen Desserts oder Kuchen herausfordern kann. Woher nimmt sie die Inspiration? "Oft von Instagram. Ich folge auch Hobbybäckern, die haben tolle Ideen. Und mein Freund und ich haben beide eine große Leidenschaft fürs Backen. Zusammen hecken wir gerne neue Kreationen aus."

Und wie schmeckt für sie Heimat? Nach Sticky-Toffee-Pudding, einem englischen Kuchen aus Datteln mit Karamellüberguss. Schon ein Bissen davon weckt Erinnerungen an ihre Kindheit in Schottland. Den Wohnort wechselte sie in ihrer Jugend häufiger: Norwegen, England und zuletzt Deutschland.

Über Umwege zur Lehre

Nach dem Abitur fing sie mit einem Lehramtsstudium in den Fächern Englisch und Textilgestaltung an. Aber nach vier Semestern stand für sie endgültig fest: Es war nicht das Richtige. "Meine Mutter schlug mir schon nach dem Schulabschluss vor, dass ich doch eine Konditorlehre beginnen soll. Sie war so begeistert von meinen Kuchen, die ich schon damals mit großer Leidenschaft backte."

Mit 21 Jahren schließlich folgte Natalie Stebbing dem Rat ihrer Mutter und begann eine Lehre in einer kleinen Bäckerei in der Nähe von Bielefeld in Deutschland. Die Lehre war für die wissbegierige Perfektionistin ein Traum. Für die Mutter manches Mal ein Albtraum: "Für eine Prüfung musste ich einmal Croissants machen. Den ganzen Tag backte und backte ich. Sie sollten perfekt werden. Irgendwann – die gesamte Küche und der Tiefkühler waren bereits voll mit Croissants – stoppte mich meine Mutter. Möglicherweise hätte ich sonst noch ewig weitergemacht."

Nach dem Lehrabschluss wollte sie raus, etwas erleben, Neues sehen und lernen. In einer Facebook-Gruppe entdeckte sie das Jobinserat als Jungkonditorin von Michael Klein, dem damaligen Chef-Patissier des Sacher. Dass sie vier Jahre später seinen Platz als Chef-Patissière übernehmen und mit ihm eine TV-Sendung gewinnen würde, hätte sie sich damals nicht erträumt.

Fußball zum Ausgleich

Obwohl das Hieven der Äpfel eigentlich sportliche Betätigung genug ist, braucht Stebbing dennoch einen anderen Ausgleich: "Fußball war meine erste große Liebe." Seit sie vier Jahre alt ist, kickt sie und kann sich ein Leben ohne Fußball nicht vorstellen. In Wien spielt sie beim SC Wiener Viktoria. Bei den Turnieren an den Wochenenden dabei zu sein ist allerdings nicht immer ganz einfach: "Ich schreibe zwar den Dienstplan selbst, aber ich lasse zuerst meine Kolleginnen und Kollegen entscheiden, welche Dienste sie möchten, und übernehme dann die restlichen Dienste."

Bei einer weiteren Kugel schlägt Natalie Stebbings Herz höher: der Praline. "Man kann so viel Geschmack in so eine kleine Form stecken – das ist unglaublich. Ich könnte den ganzen Tag Schokolade temperieren und daraus Pralinen oder Ähnliches herstellen. Ich liebe den Rohstoff Schokolade." Auch ihre liebste Süßigkeit ist eine Praline – gefüllt mit Salzkaramell. "Wenn es anderen schon salzig genug ist, streue ich gern noch etwas mehr hinein." Die Bereiche des Möglichen austesten, Neues kreieren und den Sachertorten-Horizont erweitern ist Stebbings Motivation. Ihr Traum ist, eines Tages eine eigene Chocolaterie zu eröffnen. Vielleicht gibt es die Sachertorte dann als Praline. (18.6.2022)