Frage: Was hat die britische Regierung da genau geplant?

Antwort: Im April unterzeichneten die britische Innenministerin Priti Patel und der ruandische Außenminister Vincent Biruta in Ruandas Hauptstadt Kigali einen heiklen Migrationsdeal: Viele der rund 10.000 Menschen, die heuer schon per Boot den Ärmelkanal durchquert haben und so illegal nach Großbritannien gekommen sind, sollen noch vor ihrem Asylantrag in das kleine Land fernab Europas gebracht werden. In Ruanda stehen die Flüchtlinge dann vor der Entscheidung, entweder dort zu bleiben oder aber in jenes Land zurückzukehren, aus dem sie geflohen sind. Nach Großbritannien zurück, so viel steht nach dem Willen Londons fest, kommen sie in keinem Fall.

Unter Druck: Großbritanniens Premier Johnson und Arbeitsministerin Coffey (im Hintergrund).
Foto: Alberto Pezzali / POOL / AFP

Johnsons Regierung, die sich einerseits innenpolitischem Druck und andererseits steigenden Ankunftszahlen ausgesetzt sieht, argumentiert dieses "One-Way-Ticket" in drei Dimensionen: Erstens sollen die Deportierungen abschreckend wirken, zweitens soll Schlepperinnen und Schleppern im Ärmelkanal das Geschäftsmodell entzogen werden, drittens will sich London so die aktuell fünf Millionen Euro pro Tag teure Unterbringung der illegalen Migrantinnen und Migranten sparen. Ruanda, das vor dem anstehenden Commonwealth-Treffen um internationales Prestige bemüht ist, soll für seine Dienste 120 Millionen Pfund (140 Millionen Euro) bekommen.

DER STANDARD

Frage: Warum wurde es dann am Dienstagabend nichts?

Antwort: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fällte sein Urteil buchstäblich in letzter Minute: Ursprünglich hatte die britische Regierung 130 illegal Eingereiste in den Jungfernflug nach Kigali setzen wollen, darunter viele Minderjährige. Nach Einsprüchen reduzierte sich diese Zahl auf gerade einmal acht; am Dienstagabend ordnete das Straßburger Gericht an, dass ein weiterer Abzuschiebender vorerst nicht außer Landes gebracht werden darf. Zur Begründung hieß es, man müsse zunächst eine Frist von drei Wochen nach dem Abschluss des Rechtsweges in Großbritannien verstreichen lassen. Am späten Dienstabend dann der Knalleffekt: Der EGMR gab weiteren Einsprüchen recht, der öffentlichkeitswirksam schon auf dem Flughafen wartende Jet konnte nicht abheben.

Auf einer Luftwaffenbasis in Wiltshire stand der Flieger, der nicht in Richtung Kigali abheben konnte.
Foto: REUTERS/Henry Nicholls/File Photo

Frage: Was forderten die Gegnerinnen und Gegner?

Antwort: Während der Boulevard die Pläne der wegen der – entgegen den Versprechungen der Brexit-Propaganda – steigenden Asylzahlen unter Druck geratenen Regierung Johnsons feiert, lassen große Teile der Zivilgesellschaft kein gutes Haar daran. Großbritannien entledige sich seiner Pflicht, Asylanträge zu bearbeiten, lautete der Tenor. Zuletzt hatten 25 Bischöfe, mithin die gesamte Führungsspitze der anglikanischen Kirche, in einem offenen Brief gegen die harsche Asylpolitik protestiert. Sie sei eine "unmoralische Politik, die Großbritannien beschämt", schrieben sie und mahnten an: "Wir dürfen unsere ethische Verantwortung nicht auslagern und internationales Recht missachten, das den Anspruch auf Asyl schützt." Auch Oppositionsparteien und Hilfsorganisationen, das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen und viele britische Bürger sind entsetzt, besorgt und protestierten. In London versammelten sich am Samstag spontan Hunderte von Bürgern, als Vollzugsbeamte des Innenministeriums einen Flüchtling aufgreifen wollten, und verhinderten dessen Festnahme. Sogar der Thronfolger machte Druck. Prinz Charles ließ in mehreren privaten Gesprächen verlauten, dass er die Ruanda-Deportationen "entsetzlich" finde.

Auch ganz in der Nähe der Basis wurde protestiert.
Foto: Andrew Matthews/PA Wire/PA via AP

Frage: Was will Boris Johnson jetzt tun?

Antwort: In der Downing Street, dem Amtssitz von Premierminister Johnson, gibt man sich am Mittwoch demonstrativ unverdrossen – und kämpferisch. Großbritannien werde sich "nicht daran hindern lassen", seine Pläne zu verfolgen, was die Abschiebungen nach Ruanda betrifft, erklärte Johnson. Seine Arbeitsministerin Thérèse Coffey preschte vor: Die britische Regierung werde mit Sicherheit gegen das Urteil der Richter vorgehen, sagte sie am Mittwoch zu Sky News. Innenministerin Patel sagte, sie sei "sehr überrascht" und "enttäuscht", dass der Gerichtshof "interveniert hat trotz früherer Erfolge in unseren nationalen Gerichten", die die Abschiebung für rechtens erklärt hätten. "Wir lassen uns nicht davon abschrecken, das Richtige zu tun", erklärte sie. Man arbeite daran, die nächste Abschiebung vorzubereiten: "Viele von denen, die nicht auf diesem Flug waren, werden auf dem nächsten sein." Ob sich London nach dem Brexit und der Klatsche aus Straßburg überhaupt weiter der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet fühlt, ließ Johnson offen.

In Ruanda wartet man weiter auf die Flüchtlinge – und das Londoner Geld.
Foto: REUTERS/Jean Bizimana

Frage: Und wie hat Ruanda reagiert?

Antwort: Für das autoritär regierte Ruanda, das seit der Pandemie mit enormen Staatsschulden zu kämpfen hat, geht es um viel Geld, das London für die Aufnahme von dort nicht gewünschten Migrantinnen und Migranten zugesagt hat. Ein von Großbritannien ersonnener Fonds sollte nicht nur den Deportierten Ausbildung und Sprachangebote finanzieren, sondern auch der eigenen, von hoher Jugendarbeitslosigkeit geplagten Bevölkerung zugutekommen. Die für afrikanische Verhältnisse aufstrebende Wirtschaft braucht zudem Arbeitskräfte. Daher sollen jene aus Großbritannien abgeschobenen Menschen in Ruanda, die dort bleiben wollen und nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen oder können, neben einer Arbeitserlaubnis auch freien Zugang zum Gesundheitssystem erhalten. Die Regierung in Kigali gibt sich auch daher ebenso unverdrossen wir ihre Geschäftspartnerinnen und -partner an der Themse. Ruanda lasse sich nicht abschrecken und fühle sich dem Plan weiterhin verpflichtet, sagte eine Sprecherin. "Ruanda ist bereit, die Migranten willkommen zu heißen und ihnen Sicherheit und Chancen in unserem Land zu bieten." (Florian Niederndorfer, Jochen Wittmann aus London, 15.6.2022)