Der Mensch soll als Lehrer wegfallen und so alternative Denkweisen für künftige KIs ermöglichen.

Foto: APA/dpa/Axel Heimken

Maschinen sind in vielen Bereichen mit Menschen gleichgezogen. Sie können uns in Strategiespielen wie Schach schlagen, können einfache Operationen durchführen oder Flugzeuge fliegen. Initial bleibt aber noch immer der Mensch unersetzlich – bis jetzt. Der nächste Schritt soll künstliche Intelligenz (KI) sein, die eine andere künstliche Intelligenz schafft und ihr Dinge beibringt. Das Ziel: Artifical General Intelligence (AGI) – Maschinen, die unabhängig von ihren ursprünglichen Schöpfern agieren und lernen.

Verstecken spielen

Auf dem Bildschirm des KI-Forschers Rui Wang läuft eine simpel gezeichnete Figur über eine grüne Wiese. Gesteuert wird die Figur allerdings nicht von einem Menschen – Wang hat keinen Joystick oder eine Maus in der Hand –, sondern sie steuert sich selbst. Das Ziel des Projekts Poet (Paired Open-Ended Trailblazer), das Wang geholfen hat zu entwickeln, ist es, dass eine KI einen sich wandelnden Hindernisparcours baut und eine andere die ständig wechselnden Hindernisse immer besser lernt, selbst zu überwinden. Auf den ersten Blick mag dieses Schluchten und Steine überspringende Figürchen wenig beeindrucken, aber die Tatsache, dass sowohl die Erschaffung der Welt als auch der damit nötige Lernprozess der zweiten KI völlig ohne menschliches Zutun geschieht, mag dann doch für die eine oder andere hochgezogene Augenbraue sorgen.

Uber AI Labs

Für Wang und sein Team ist Poet revolutionär. Es ist nach eigenen Aussagen ein erster Schritt, noch intelligentere Maschinen zu erschaffen, die eigene, sich entwickelnde Intelligenzen erschaffen können.

Neben Wang ist der KI-Forscher Jeff Clune Antreiber der Idee. Clune arbeitet selbst auf diesem Gebiet und spricht bei der Erschaffung "wahrlich intelligenter KI" von einem der ambitioniertesten Forschungsprojekte der menschlichen Geschichte. Nach knapp 70 Jahren der KI-Forschung ist sich Clune sicher, dass Poet einen Meilenstein in diesem Bereich darstellt. Menschliche Intelligenz zu ersetzen sei dabei gar nicht das Ziel, vielmehr, mit unerwarteten Gedankengängen der neuen KI diese effizient zu ergänzen.

In der Vergangenheit konnte KI solch unkonventionelle Zugänge schon mehrfach beweisen. Von Clune selbst entworfene Maschinen sollten etwa 2018 in einer virtuellen Umgebung "Verstecken" spielen. Nachdem sie die offensichtlichen Objekte als Deckung genutzt hatten und die Umgebung nach und nach besser kennenlernten, fingen sie an technische Fehler in der Software auszunutzen, um beispielsweise über eigentlich viel zu hohe Wände springen zu können. Die KI hatte sich Wege gesucht, die der Mensch nicht vorhersehen konnte. Sie ignorierte erstmals die Regeln ihrer Umgebung.

Intelligenz als Prozess

Über Jahrzehnte versuchten KI-Forscher, Algorithmen zu erschaffen, die menschliche Intelligenz zu kopieren versuchten. Clune und andere Forscher wollen mit Projekten wie Poet allerdings einen anderen Ansatz verfolgen. Die Annahme des KI-Forschers, der unter anderem beim US-Unternehmen Open AI beschäftigt ist: Wenn die Intelligenz, wie wir sie kennen, aus der unendlichen Mutation von Genen über unzählige Generationen hervorgegangen ist, warum dann nicht gleich versuchen, den intelligenzproduzierenden Prozess zu replizieren? Intelligenz solle kein Endpunkt sein, den man zu erreichen versucht. Viel mehr gehe es um eine Intelligenz, die der aktuelle Höchststand eines immer weiterlaufenden Prozesses sei. Das Ziel seien also Algorithmen, die diesen fortlaufenden Prozess herstellen können.

Der aktuelle Forschungsstand ist allerdings, dass man diese sich entwickelnde KI noch nicht herstellen kann. Clune vergleicht diese derzeitige Sackgasse mit der Suche nach Bausteinen für diese KI, ohne zu wissen, wonach man suche und wie viele man von diesen Blöcken überhaupt brauchen würde. "Irgendwann müssen wir uns dann zusätzlich noch die Frage stellen, wie wir diese Blöcke aufeinanderstellen." Das sei eine Herkulesaufgabe, sagte Clune in einem Interview mit "Technology Review" Ende Mai. "Die KI zu bitten, diese Bausteine für uns zu finden und zusammenzusetzen, ist ein Paradigmenwechsel. Es heißt, wir wollen eine intelligente Maschine erschaffen, aber es ist uns egal, wie sie aussehen könnte."

Zukunftsvisionen

Die aktuellen Forschungen würden in jedem Fall die Art verändern, wie KI künftig geschaffen werde. Die Maschinen der Zukunft werden ihre eigenen Herausforderungen suchen, diese lösen und neue produzieren. Poet sei ein Ausblick auf diese Zukunft. Bei all diesen Entwicklungen schwingt merkbar die Hoffnung mit, dass Maschinen im besten Fall künftig in der Lage sein sollen, die derzeitigen menschlichen Sackgassen zu umgehen und zu helfen, komplexe Krisen wie Klimawandel oder tödliche Viren für die Menschheit zu entschlüsseln.

Die kleine, auf dem Bildschirm eines Forschers über Hindernisse springende Figur scheint diesen Aufgaben noch nicht gewachsen zu sein. Aber sie ist mit Sicherheit ein vielversprechender Anfang. (aam, 16.6.2022)