Angela Merkel hat sich ungebührend eingemischt, sagte ein Gericht.

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Der 5. Februar 2020 ist in Deutschland vielen, die Politik mit Interesse verfolgen, auch heute noch ein Begriff. An diesem Tag, einem kalten Mittwoch, geschah in Thüringen ein Dammbruch. Erstmals wurde in einem deutschen Bundesland ein Ministerpräsident – nämlich der FDP-Mann Thomas Kemmerich – mithilfe der AfD gewählt. Für ihn stimmten damals, im dritten Wahlgang, die eigenen Leute, also die Liberalen, die CDU und die AfD. Und nicht der Linke Bodo Ramelow war plötzlich Ministerpräsident, sondern Kemmerich – sehr zum Entsetzen der CDU-Führung in Berlin.

Denn dort galt (und gilt bis heute): Man macht keine gemeinsame Sache mit der AfD. Legendär war danach die "Gratulation" der Linken-Politikerin Susanne Hennig-Wellsow. Sie warf Kemmerich ihren Blumenstraß vor die Füße. Die Schockwellen gingen damals aber bis Südafrika, wo Kanzlerin Angela Merkel gerade zu Besuch war. Sie zwar zu jener Zeit nicht mehr CDU-Chefin. Dieses Amt hatte Annegret Kramp-Karrenbauer inne, die erklärte, die CDU-Fraktion im Thüringer Landtag habe "ausdrücklich gegen die Empfehlungen, Forderungen und Bitten der Bundespartei" gehandelt. "AKK" und das Präsidium der Bundes-CDU forderten daraufhin Neuwahlen in Thüringen.

Kommentar aus dem Süden Afrikas

Aber auch Merkel äußerte sich am 6. Februar im südafrikanischen Pretoria. Normalerweise gilt: Bei Auslandsreisen wird offiziell nicht über deutsche Innenpolitik gesprochen. Doch die Geschehnisse waren gravierend. Also sagte Merkel, "dass dieser Vorgang unverzeihlich ist und deshalb das Ergebnis rückgängig gemacht werden muss". Und sie schob nach: "Es war ein schlechter Tag für die Demokratie." Ein Wortlautprotokoll der Pressekonferenz wurde anschließend auf den Internetseiten der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung veröffentlicht. Das ärgerte die AfD so sehr, dass sie Klage beim Bundesverfassungsgericht einreichte. Ihr Argument: Merkel habe als Kanzlerin das nötige Neutralitätsgebot verletzt.

Am Mittwoch nun kam das Urteil des Höchstgerichts, und dieses gab der AfD recht. "Bundeskanzlerin Merkel hat mit der getätigten Äußerung in amtlicher Funktion die Antragstellerin (also die AfD, Anm.) negativ qualifiziert und damit in einseitiger Weise auf den Wettbewerb der politischen Parteien eingewirkt", heißt es in Karlsruhe. Verwiesen wird auf Artikel 21 des Grundgesetzes. Dort heißt es: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit." Merkel habe keine "zulässige Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung" getätigt, als sie die Wahl kritisierte. Und durch die anschließende Veröffentlichung der Äußerung auf den Internetseiten der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung habe sie "außerdem auf Ressourcen zurückgegriffen, die allein ihnen zur Verfügung standen".

Kurze Geschichte

Merkel war also als Kanzlerin nicht neutral und hat der AfD Rechte abgesprochen, die ihr das Grundgesetz aber zugesteht. "Um die verfassungsrechtlich gebotene Offenheit des Prozesses der politischen Willensbildung zu gewährleisten, ist es unerlässlich, dass die Parteien, soweit irgend möglich, gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen. Dies macht es erforderlich, dass Staatsorgane im politischen Wettbewerb der Parteien Neutralität wahren", rügte das Gericht. Die Entscheidung in Karlsruhe fiel mit 5:3 im Zweiten Senat knapp aus. Merkel ist seit Dezember nicht mehr Bundeskanzlerin, Kemmerich war sowieso sehr schnell wieder Geschichte. Bereits einen Tag nach seiner Wahl kündigte er, unter massivem Druck, seinen Rückzug an, nach zwei weiteren Tagen trat er offiziell zurück und blieb bis zur (Neu-)Wahl seines Nachfolgers Ramelow nur mehr geschäftsführend im Amt. Seit dem 4. März 2020 regiert Ramelow mit einer Minderheitsregierung aus Linken, Grünen und SPD. (Birgit Baumann aus Berlin, 15.6.2022)