Forschende haben etwas Licht in die Vorgänge gebracht, die beim Lesen im menschlichen Gehirn ablaufen.

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Obwohl Lesen ein so zentraler kognitive Vorgang ist, sind viele dahinterstehende Prozesse im Gehirn nur oberflächlich verstanden. So dürfte etwa der linke untere Schläfenlappen eine wichtige Bedeutung haben, das geht aus bisherigen Studien hervor. Welche Funktion ihm beim Lesen genau zukommt, das war allerdings bisher weitgehend unklar. Einem Team der Universität Wien und der Goethe Universität Frankfurt ist es nun mithilfe von funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) gelungen, einige Rätsel zu lösen.

Für ihre nun im Fachjournal "PLOS Computational Biology" erschienene Studie untersuchten die Forschenden die kognitiven und neuronalen Prozesse der Worterkennung. Dafür entwickelte die Gruppe um Benjamin Gagl und Christian Fiebach ein Modell, das etablierte Verhaltensbefunde aus der Psychologie nutzt, um die Aktivierungsstärke linken unteren Schläfenlappens vorherzusagen.

Bekannte und unbekannte Wörter

Das Modell nimmt hierbei an, dass diese Gehirnregion im Sinne eines Filters bereits bekannte Wörter von sinnlosen oder noch nicht bekannten Buchstabenfolgen trennt und nur bekannte Wörter zu nachfolgenden Prozessen der Bedeutungsverarbeitung "passieren" lässt. Unbekannten Wörtern wiederum begegnen wir oft, etwa, wenn wir etwas Neues lernen. Diese erfordern eine andere Art der Verarbeitung im Gehirn.

Dieses "Lexikalische Kategorisierungsmodell" kann das Leseverhalten der Versuchspersonen gut beschreiben, aber auch sehr präzise Vorhersagen über Gehirnaktivierungen treffen, wie das Team anhand von drei fMRT-Experimenten demonstrierte. Darüber hinaus konnten sie in einer Verhaltensstudie zeigen, dass die Leseleistung besser wird, wenn die Probandinnen und Probanden genau diesen Filterprozess trainieren. So konnten die Forschenden einen bis jetzt nicht beschriebenen Kernprozess des Lesens identifizieren und seine genaue Lokalisation im Gehirn beschreiben.

Grundlagen für neue Lesetrainingsansätze

"Diese Ergebnisse sind ein Meilenstein für unser Verständnis von Leseprozessen", so Fiebach. Die exakte Modellierung von kognitiven Prozessen im menschlichen Gehirn werde es ermöglichen, Denk- und Wahrnehmungsprozesse wesentlich besser zu verstehen. Dies könnte neue Trainingsansätze zur Kompensation von Funktionsstörungen aufzeigen, wie etwa im Bereich der Lese- und Rechtschreibschwäche. (red, 19.6.2022)