Jurij Sawtschuk steht in seinem dunkelgrauen Anzug vor jener Installation, die Besuchern sofort nach Betreten des Museums des Zweiten Weltkriegs ins Auge springt: 164 Militärstiefel russischer Soldaten, die in der Form eines rot umrandeten Sterns angeordnet wurden, der die sowjetische Vergangenheit symbolisieren soll. Dass manche der Stiefel auf der Innenseite die Initialen ihrer Besitzer tragen, erwähnt Sawtschuk in der ruhigen, gedämpften Stimme eines Museumsdirektors. "Die Stiefel wurden von den russischen Soldaten zurückgelassen, nachdem sie in der Ukraine besseres Schuhwerk gefunden und gestohlen haben", erzählt er nüchtern und zeigt weitere Exponate, die sich im Raum befinden: die Pässe russischer Soldaten, Konservendosen mit Erbsen, Suppe im Glas, Kreditkarten einer russischen Bank namens "Мир" – "Frieden". Manche der Lebensmittel sind halal, für die muslimischen Tschetschenen und Anhänger von Machthaber Ramsan Kadyrow, die ebenfalls in den Krieg geschickt wurden. Alltagsgegenstände, die die grausame Belagerung Kiewer Vororte dokumentieren – in Butscha, Irpin, Hostomel.

164 Militärstiefel russischer Soldaten.
Foto: Prugger

Viele der Objekte, die in der Ausstellung einen Platz gefunden haben, hat Sawtschuk selbst in den Trümmern und geplünderten Häusern eingesammelt. Wie die meisten in der Ukraine versuchte der 57-Jährige in den ersten Tagen und Wochen des Krieges der Hilflosigkeit zu entkommen und einen Weg zu finden, mit den Geschehnissen umzugehen. "Der oberste ukrainische Militärgeneral hat sofort verstanden, wie wichtig die Aufarbeitung dieser brutalen Ereignisse ist, und gewährte mir den Zugang zu den kürzlich von der ukrainischen Armee befreiten Gebieten", erzählt er. "Wir gehörten zu den Ersten, die diese Orte nach den Bombenentschärfern betraten."

Schlachtfeld als Fotomotiv

Das Museum ist Teil der Gedenkstätte für den Zweiten Weltkrieg und befindet sich neben der weltbekannten über 100 Meter hohen Mutter-Heimat-Statue, die von hier aus die Stadt und den Fluss Dnepr überblickt. Vielen Stadtbewohnern dient der breit angelegte Museumskomplex mit seinen grünen Wiesen und den sowjetischen Panzern aus früheren Schlachten mittlerweile wieder als Fotomotiv. Museumsdirektor Sawtschuk, der seine Familie in den ersten Tagen des Krieges nach Polen brachte, erzählt, dass er in einem Raum unterhalb der Frauen-Statue übernachte. Eine Entscheidung, die er aus zeitlichen Gründen traf: Die Arbeit und Planung der vielen Besuche politischer und diplomatischer Vertreter erfordert seine gesamte Aufmerksamkeit. Und die Ausgangssperren am Abend erschweren ein rechtzeitiges Heimkommen in die leere Wohnung auf der anderen Seite des Flusses.

Museumsdirekter Jurij Sawtschuk im Kellergeschoß.
Foto: Prugger

In ihrem ersten Monat haben mehr als 8.000 Menschen die Ausstellung mit dem Namen "Crucified Ukraine" besucht. "Oft haben wir Menschen hier, die den Verwandten, die in der Zwischenzeit aus dem Ausland zurückgekommen sind, zeigen wollen, wie sie überlebt haben", sagt Alla Hrushetska, die hier im Museum Führungen gibt. "Vielen von uns fehlen die Worte, um das zu beschreiben, was wir gesehen haben. Es ist leichter, in dieser Umgebung zu sprechen." Unter den Besuchern sind viele Soldaten und Veteranen, die zornig durch die Räume marschieren, immer wieder ihr Handy zücken, fotografieren und "Diese Schweine!" fluchen. Einer von ihnen, ein freiwilliger Kämpfer aus Polen, der erst vor wenigen Tagen die Front in der Region Charkiw verlassen hat, erzählt, warum er gekommen ist: "Für uns war das alles Abfall. Ich wollte sehen, was sie aus dem Müll gemacht haben."

Gedenken an Hostomel

Im Keller haben Sawtschuk und sein Team einen Schutzraum nachgebaut, in dem mehr als 100 Menschen 37 Tage lang überlebten. Neben der Eingangstür mit dem Zettel "Achtung, hier sind nur Zivilisten" wurde das echte Schild mit der Hausnummer montiert. Die Adresse verweist auf die Ortschaft Hostomel, wo russische Soldaten in den ersten Kriegstagen einen Flughafen einnehmen wollten. "Wir sprechen in diesem Museum üblicherweise über die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs. Genau deshalb verstehen wir, wie wichtig das Sammeln und Ausstellen von Artefakten und Dokumenten ist", sagt Sawtschuk und begibt sich in den finsteren Gang, der in die hinteren Schlafbereiche führt.

Auf dem Boden liegen Mobiltelefone, die die russischen Soldaten den Bewohnern wegnahmen, und eine weiße Fahne der Zivilisten. An der Wand steht das ukrainische Wort für "Schutz" geschrieben. Die Ausstellungsstücke im Schutzraum sehen so aus, als hätten die Bewohner den Keller gerade erst verlassen. In der Luft hängt der Geruch von ungewaschener Kleidung. Auf einem Tisch befinden sich Eier, Zwiebeln und Teller, an der Wand eine Darts-Scheibe. So echt wie möglich soll es hier aussehen, erzählt Sawtschuk mit leiser Stimme, während im Hintergrund das laute Ticken einer Wanduhr zu hören ist.

Mit der Ausstellung will Sawtschuk die Geschichte, die in diesem Land noch immer geschrieben wird, nicht nur für die Nachwelt, sondern vor allem für seine Mitbürger festhalten – besonders jetzt, in einer Zeit, die von Desinformation und russischer Propaganda geprägt ist. Denn auch in Moskau widmet sich das Museum des Großen Vaterländischen Krieges – im März in "Museum des Sieges" unbenannt – in einer Ausstellung dem Krieg in der Ukraine und der "ukrainischen Version des Nationalsozialismus". "Als Geschichtsmuseen müssen wir dafür kämpfen, dass unsere Nachfahren den Zugang zu Fakten und Dokumenten erhalten", sagt Museumsdirektor Sawtschuk am Ende der Führung, während draußen in der Stadt wieder eine Sirene zu hören ist, Luftalarm. "Deshalb sind das Museum in Moskau und wir ideologische Gegner." (Daniela Prugger aus Kiew, 16.6.2022)