Die Vertreibung schreite schneller voran, als Lösungen für Flüchtlinge gefunden werden, heißt es im neuen UNHCR-Bericht.

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Genf – Die Zahl der Menschen, die sich weltweit auf der Flucht befinden oder vertrieben wurden, ist im vergangenen Jahrzehnt jedes Jahr angestiegen und erreicht heuer erneut einen Höchststand. Im Mai waren weltweit mehr als 100 Millionen Menschen aufgrund von Verfolgung, Konflikten, Gewalt oder Menschenrechtsverletzungen vertrieben, wie ein am Donnerstag veröffentlichter Bericht des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) zeigt.

Ende 2021 lag die Zahl der durch geflohenen und vertriebenen Menschen laut dem "Global Trends Report" des UNHCR bei 89,3 Millionen – um acht Prozent mehr als im Jahr zuvor und mehr als doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Seither haben die russische Invasion in der Ukraine – die die schnellste und eine der größten Vertreibungskrisen seit dem Zweiten Weltkrieg auslöste – und andere Notsituationen in afrikanischen Ländern, Afghanistan und weiteren Regionen die Zahl über den "dramatischen Meilenstein" von 100 Millionen steigen lassen, berichtet das Uno-Flüchtlingshochkommissariat im Vorfeld des Weltflüchtlingstages am 20. Juni.

Konfliktherde Sahel, Äthiopien und Myanmar

Mehr als die Hälfte davon – 53,2 Millionen – sind Binnenvertriebene, also Vertriebene im eigenen Land. Ihre Zahl stieg im Vergleich zu 2020 um 5,2 Millionen. Dieser Zuwachs ist laut UNHCR auf die zunehmende Gewalt in mehreren Ländern zurückzuführen, beispielsweise in Myanmar. Auch der Konflikt in der äthiopischen Region Tigray und anderen Gebieten hat Millionen Menschen zur Flucht innerhalb des Landes veranlasst. Aufstände in der Sahelzone führten zu neuen Binnenvertreibungen, insbesondere in Burkina Faso und im Tschad.

Weiters zählte das UN-Flüchtlingshochkommissariat Ende des vergangenen Jahres 27,1 Millionen Flüchtlinge (+700.000) – 21,3 Millionen unter UNHCR-Mandat und 5,8 Millionen Palästinenser und Palästinenserinnen unter UNRWA-Mandat. Hinzu kommen 4,6 Millionen Menschen, die als Asylsuchende registriert wurden und 4,4 Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner, die aus ihrer Heimat geflohen sind.

Strapazierte Aufnahmeländer

83 Prozent der Flüchtlinge und Vertriebenen fand Schutz in Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen. Mehr als ein Viertel wurde sogar von den am wenigsten entwickelten Ländern aufgenommen. Kein Land hat so viele Flüchtlinge aufgenommen wie die Türkei (fast 3,8 Millionen), gefolgt von Uganda (1,5 Millionen), Pakistan (1,5 Millionen) und Deutschland (1,3 Millionen). Kolumbien beherbergte 1,8 Millionen ins Ausland geflüchtete Venezolaner und Venezolanerinnen. Der Libanon nahm die meisten Flüchtlinge je Einwohner auf.

Keine Veränderung gab es bei den Top-5 Herkunftsländern. Mehr als zwei Drittel, 69 Prozent, kamen Ende 2021 – also vor Ausbruch der Ukraine-Flüchtlingskrise – aus nur fünf Ländern: Syrien, Venezuela, Afghanistan, Südsudan und Myanmar.

UN-Flüchtlingskommissar warnt vor schrecklichem Trend

Geschwindigkeit und Ausmaß der Vertreibung seien immer noch größer als die Möglichkeit, tragfähige Lösungen für die Vertriebenen zu finden, also etwa Rückkehr, Resettlement (Aufnahme in Drittstaaten) oder lokale Integration, so das UNHCR. "Wenn die internationale Gemeinschaft nicht zusammenkommt, um etwas gegen diese menschliche Tragödie zu unternehmen, Konflikte zu lösen und dauerhafte Lösungen zu finden, dann wird dieser schreckliche Trend anhalten", warnte UN-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi.

Dennoch enthält der Global-Trends-Bericht auch Hoffnungsschimmer: Die Zahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen, die nach Hause zurückkehren konnten, stieg im Jahr 2021 um 71 Prozent und erreichte damit wieder das Niveau der Zeit vor Corona. (APA, 16.6.2022)