Es ist eine Leerstelle, um die die Erzählung kreist: Helen, liebevolle Mutter, Hausfrau und Freundin, stürzt sich selbst ohne Vorwarnung in den Tod. Dass ein Ende aber immer auch ein Anfang ist, wird bald offensichtlich: Denn mit dieser Katastrophe beginnt Mareike Fallwickls Roman.

Überzeugt durch Sprache und Struktur: Mareike Fallwickl.
Foto: Gyöngyi Tasi

Der Text erzählt vom Schmerz und Ringen der Hinterbliebenen, und das auf eine ganz unpathetische und sehr wahrhaftige Weise. In Die Wut, die bleibt übernimmt Sarah, Helens Kindheitsfreundin, die Verantwortung für die Hinterbliebenen. Da ist der Vater Johannes, der durch Abwesenheit glänzt, da ist der kleine Maxi, den man einfach liebhaben muss, weil er so hilflos ist, und vor allem ist da die pubertierende Lola, die immer mehr in eine Welt der Gewalt und des Männerhasses abrutscht.

Sarah, die selbst zweimal abgetrieben hat und familienlos geblieben ist, sehnt sich einerseits nach einem Leben mit Kindern, andererseits ist sie zusehends überfordert. Dass das einerseits an dem Nichtendenwollen der Corona-Pandemie, andererseits aber auch an den Männern liegt, die sie umgeben, wird bald klar: Während Sarahs Partner Leon ihr immer mehr entgleitet, ist der Familienvater Johannes hauptsächlich abwesend.

Emotionales Chaos

Wen wundert es da, dass die pubertierende Lola immer mehr in ein emotionales Chaos hineinkippt? Gemeinsam mit ihren drei Freundinnen Sunny, Alva und Femme beschließt sie, sich auf das in ihr vorherrschende Gefühl zu konzentrieren: Wut. Und so attackiert die Gang der Mädels, die regelmäßig Boxen trainiert und sich bezeichnenderweise "Karma" nennt, Männer.

Während Sarah im Laufe der Zeit immer liebevoller und verzweifelter wird, sich immer mehr bemüht, das Fehlen der Mutter zu kompensieren, wird Lola nach und nach aggressiver und gewalttätiger. Ein System, das sich schließlich selbst sprengt.

Mareike Fallwickls Die Wut, die bleibt besticht vor allem durch die beiden Hauptfiguren, die sich in einander spiegeln. So wechseln die Perspektive von Sarah und Lola einander kapitelweise ab. Beide Frauen versuchen, aus der Opferrolle herauszukommen: Sie handeln. Sarah kümmert sich, spielt Mutter, Lola motzt, kratzt, zertrümmert – und beide scheitern sie letzten Endes. Während der Rausch der Gewalt Lola innerlich zerstört, muss Sarah schließlich zugeben, dass sie Helen nicht ersetzen kann.

Klarheit und Poesie

Nicht nur Mareike Fallwickls Sprache ist in ihrer Klarheit und Poesie mehr als überzeugend. Auch die formale Struktur des Romans besticht durch eine reflektierte Herangehensweise. Gerahmt ist dieser mutige Text durch einen kursiven Prolog und einen kursiven Epilog aus der Perspektive Helens, an diesen Stellen wird die Verzweiflung, aber auch die Zärtlichkeit der Toten erfahrbar.

Mareike Fallwickl, "Die Wut, die bleibt". Roman. 22,70 Euro / 384 Seiten. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2022
Cover: Rowohlt

Auch im Text selbst darf sie auftauchen. Ja: Sarah imaginiert sich die verstorbene Freundin und tritt immer wieder in einen Dialog mit ihr ein. Diese Momente des unzuverlässigen Erzählens machen die sonst sehr realistische Prosa zu einem wahren Kunstwerk.

Auch die Diskursivität der Kapitelüberschriften, die immer zusammenfassen, was im folgenden Abschnitt geschildert werden soll – "Aliveness", "Motion", "Ungewollte Gleichklänge" sind einige der Titel –, zeigt, dass die Autorin überaus reflektiert mit ihrem Material umgeht.

Um zu schreiben wie Mareike Fallwickl, braucht es Mut: Sie sieht genau da hin, wo es wehtut, deckt die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts in poetischer, klarer Sprache auf, ohne dabei anzuklagen.

Sätze der Liebe

Und obwohl sich Schmerz und Wut durch den Roman ziehen, bleibt die Situation nicht hoffnungslos: Denn anstatt mit dem Tod zu enden, endet der Text mit dem Moment von Lolas Geburt.

"Ich werde nie von deiner Seite weichen, Lola, ich verspreche es!", sagt Helen da zu ihr. Ein Satz der Liebe, der berührt und erschüttert. Mit diesen starken Worten entlässt uns diese Autorin ins Leben. (Sophie Reyer, ALBUM, 18.6.2022)