Israelische Bulldozer haben Sanitäranlagen, einen Wohnraum und einen Viehstall niedergerissen.

Foto: Maria Sterkl

Schafhirte Mahmoud Al-Najajra steht vor den Ruinen seines Heims.

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Rund 45 Kilometer entfernt vom Baustellenlärm der rasant wachsenden Großstadt Jerusalem herrscht in den Hügeln südlich von Hebron absolute Stille. Blökt hier ein Schaf, hört man es zwei Kilometer weiter. Rollt ein Bulldozer an, dann merken es die Bauern, die hier leben, oft schon lange davor. Dann haben sie Angst: um ihre Tiere, ihre Häuser, ihren ganzen kargen Besitz.

"Seit 150 Jahren ist meine Familie hier", sagt Mahmoud Al-Najajra, ein 66-jähriger Schafhirte aus der Siedlung Al-Mirkez. Während er spricht, blickt er auf einen Haufen aus Schutt und verbogenem Blech. Es sind die Überreste seines Heims.

Vor einigen Wochen kamen israelische Bulldozer und rissen Sanitäranlagen, einen Wohnraum und einen Viehstall nieder. Mehr als 1200 Menschen, darunter 500 Kinder, stehen in den Dörfern von Masafer Yatta vor der zwangsweisen Umsiedlung. Der Oberste Gerichtshof von Israel hat entschieden, dass sie dort illegal leben. Al-Najajra ist einer von ihnen.

Angekündigte Truppenübung

Auf dem dürren, kargen Hochland trotzen die Kleinbauern den Bedingungen. Sie führen Schaf- und Ziegenherden durch die Wüste, die wenigen Getreidefelder und Olivenhaine bestellen sie mit Eselwagen, alten Traktoren und Handwerkszeugen. Manche von ihnen leben in ausgekleideten Höhlen im Felsen. Anfang nächster Woche sollten sie diese besser nicht verlassen: Manchen Bewohnern wurde kürzlich mitgeteilt, dass die Armee von Montag bis Mittwoch Truppenübungen durchführen will, mitten in bewohntem Gebiet. Scharfe Munition inklusive.

Masafer Yatta liegt außerhalb von Israel, im besetzten Westjordanland. Vor vierzig Jahren hat die israelische Regierung das Hügelland zur Militärzone erklärt. Was mit den Kleinbauern geschehen soll, war seither ungeklärt. Vor mehr als zwanzig Jahren begannen sich die Bewohner, unterstützt durch israelische Menschenrechtsorganisationen, juristisch zu wehren. Dieser Kampf endete vor sechs Wochen vorm Obersten Gerichtshof mit einer Niederlage. Was den Bauern nun droht, ist laut der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem "die größte Zwangsumsiedlung seit dem Sechstagekrieg" von 1967, als Israel das Westjordanland eroberte.

Destruktion und Aufbau

Dass die Bulldozer anrollen und Häuser niederreißen, ist für die Menschen in Masafer Yatta nichts Neues. Schon vor dem Gerichtsurteil legte die israelische Armee Behausungen in Schutt.

Es ist ein Gezeitenspiel aus Destruktion und Wiederaufbau, dem die Bewohner ausgesetzt sind. Oft trifft es auch öffentliche Infrastruktur, die aus EU-Geldern finanziert wurde, wie etwa Brunnen oder Schulgebäude. Immer wieder wird das von den Vertretungen der EU kritisiert. Daraufhin passiert nichts, die Brunnen werden mit EU-Geldern neu errichtet – und wieder zerstört.

Laut Völkerrecht darf eine Besatzungsmacht weder lokale Bewohner vertreiben noch eigene Bürger im großen Stil auf besetztem Gebiet ansiedeln. Eine Massenabsiedlung, wie sie hier geplant ist, wird demnach als Kriegsverbrechen definiert. Der UN-Menschenrechtsrat spricht von einem "ernsten Bruch internationalen Rechts".

Militär über Völkerrecht

Das israelische Höchstgericht sah das anders. Jenen Dokumenten, die belegen sollten, dass die Palästinenser bereits seit langem hier lebten, schenkte das Gericht keinen Glauben. Es geht davon aus, dass sich die Bauersfamilien illegal hier angesiedelt haben, als schon klar war, dass es Militärgebiet ist. Zudem erklärte das Gericht, dass militärische Interessen unter bestimmten Bedingungen höher zu werten seien als Völkerrecht. Israelische Menschenrechtsorganisationen werfen der Regierung jedoch vor, dass sie diese militärischen Interessen nur vorschiebe. Die Armee verfüge über genügend Areal zu Trainingszwecken, sie brauche Masafer Yatta nicht, sagen sie. "Es ist der Armee in zwanzig Jahren nicht gelungen, vor Gericht zu beweisen, dass sie ernsthaften Bedarf an dieser Feuerzone hat", meint Shira Livne von ACRI, der Vereinigung für Bürgerrechte in Israel.

Dass es eher geopolitische und nicht militärische Gründe sind, die das Vorgehen Israels in Masafer Yatta bewogen, legt auch ein 40 Jahre altes Sitzungsprotokoll nahe. In einer Kabinettssitzung im Jahr 1981 schlug der damalige Landwirtschaftsminister und spätere israelische Ministerpräsident Ariel Scharon vor, man könnte das Gebiet südlich von Hebron zur Feuerzone erklären, "um die Gebiete in unseren Händen zu behalten" und die palästinensischen Bewohner weitläufig zu zerstreuen.

Laufende Übergriffe

Die meisten Bewohner von Masafer Yatta wollen aber nicht weg. "Die Familien bleiben hier, sie haben oft keine andere Wahl", sagt Basil El-Adra, ein junger Aktivist und Journalist aus der Region. Aber junge Alleinstehende ziehen immer öfter in die Städte und suchen dort Jobs, weil sie es nicht mehr aushalten. El-Adra spricht die laufenden Übergriffe aggressiver Banden an. Sie brechen in Dörfern ein, schlagen Fensterscheiben ein, vergiften Schafe, greifen Menschen mit Steinen an. Es sind junge jüdische Siedler, die seit Jahren in illegalen Caravan-Outposts leben – mitten in der Militärzone. Diese wilden Siedlungen sind selbst nach israelischem Recht illegal, trotzdem werden die Outposts nicht abgerissen. Die Siedler fühlen sich bestärkt und demonstrieren, wer in dem Gebiet das Sagen hat. Viele Angriffe sind per Video dokumentiert. Oft sieht man Soldaten der israelischen Armee abseits stehen, sie greifen nicht ein.

Nach dem Spruch des Höchstgerichts sei "das Einzige, was uns noch helfen kann, Druck aus Europa und den USA", glaubt Nidal Abu Younis, Bürgermeister von Masafer Yatta. US-Präsident Joe Biden wird in einem Monat Israel und das Westjordanland besuchen. Experten rechnen damit, dass Israel bis dahin Zurückhaltung üben wird, was Hausabrisse betrifft, und eher zu anderen Mitteln greift, um Macht zu demonstrieren. Eine Militärübung wäre ein solches Mittel. (Maria Sterkl aus Masafer Yatta, 16.6.2022)