Angesichts der massiven Zerstörungen in Irpin herrschte bei den Gästen tiefe Betroffenheit.

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Wieder war es eine Reise mit dem Zug, wieder blieb der genaue Ablauf im Vorfeld aus Sicherheitsgründen geheim: Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der italienische Premierminister Mario Draghi fuhren in der Nacht auf Donnerstag gemeinsam nach Kiew. Dort stieß dann noch der rumänische Staatschef Klaus Iohannis dazu und machte die seit Kriegsausbruch wohl gewichtigste internationale Besuchsdelegation in der ukrainischen Hauptstadt komplett.

Am Nachmittag wurden die vier vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu Gesprächen empfangen. Im Anschluss plädierten die Gäste für einen raschen EU-Kandidatenstatus für die Ukraine. Bei einer Pressekonferenz erklärte Scholz zudem, Berlin unterstütze auch die Republik Moldau dabei, EU-Beitrittskandidat zu werden.

Bereits im Vorfeld war der Besuch von zahlreichen Solidaritätsadressen Richtung Kiew begleitet gewesen. Ziel der Visite sei es, Selenskyj "ein klares Signal der Solidarität Europas zu übermitteln", twitterte etwa der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Macron sprach bei der Ankunft von einem "wichtigen Moment" und einer "Botschaft der Einigkeit, die wir den Ukrainern senden".

Ruf nach mehr Waffen

Zuletzt hatte es allerdings immer wieder Kritik an Deutschland und Frankreich gegeben – gerade auch aus Kiew selbst. Ukrainische Regierungsmitglieder hatten moniert, dass Waffenlieferungen zu langsam erfolgen würden und man dort den eigenen Wohlstand über die Freiheit und Sicherheit der Ukraine stelle.

Macron wies dies – auch mit dem Hinweis auf finanzielle Unterstützung für Kiew – zurück: Frankreich und Europa hätten "der Ukraine und ihrer Bevölkerung von Anfang an zur Seite gestanden". Scholz weist seinerseits darauf hin, dass Deutschland in Abstimmung mit westlichen Partnern Waffen bereitstelle.

Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums in Berlin hat Deutschland zwischen dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar und dem 1. Juni die Lieferung von Rüstungsgütern im Wert von über 350 Millionen Euro genehmigt.

Zudem erklärte am Mittwoch Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht vor dem aktuellen Treffen mit ihren Amtskolleginnen und -kollegen der Nato-Staaten, dass die drei von Berlin zugesagten Mehrfachraketenwerfer bereits im Juli oder August geliefert werden könnten.

Spuren der Verwüstung

Vor dem Gespräch mit Selenskyj besuchten die Staats- und Regierungschefs den Kiewer Vorort Irpin, um sich die Zerstörungen dort zeigen zu lassen. Dass es in der Gegend keine militärischen Strukturen gegeben habe, sage "sehr viel aus über die Brutalität des russischen Angriffskriegs, der einfach auf Zerstörung und Eroberung aus ist", sagte Scholz. Macron bezeichnete Irpin als "heroische Stadt, gezeichnet von den Stigmata der Barbarei". Rumäniens Präsident Iohannis forderte einmal mehr, russische Gräueltaten vor ein internationales Strafgericht zu bringen.

Die Kiew-Reise des hochkarätigen Quartetts erfolgte nur einen Tag vor einer wichtigen Weichenstellung durch die Europäische Kommission in Brüssel. Diese wollte am Freitag eine Empfehlung abgeben, wie man auf die Bewerbung der Ukraine für eine EU-Mitgliedschaft reagieren solle. Nächste Woche soll dann auf einem EU-Gipfel über einen etwaigen Kandidatenstatus für Kiew entschieden werden. Die entsprechenden Verhandlungen während der nächsten Tage werden nun unter dem Eindruck der Fürsprache stehen, die in Kiew zum Ausdruck gebracht wurde.

Moskau warnt

Russland warnte unterdessen einmal mehr vor weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine. Sie seien "absolut nutzlos" und würden dem Land nur "weiter schaden", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Donnerstag. Die EU-Politiker sollten sich nicht nur darauf konzentrieren, "die Ukraine mit Waffen vollzupumpen". (Gerald Schubert, 16.6.2022)