Natalia Forsjuk kommt etwas verspätet zum Treffen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Die U-Bahn fiel aus, weil es wieder einmal Luftalarm in der Stadt gab. Trotzdem strahlt sie. Internationalen Medienberichten zufolge wird die Europäische Kommission einen Kandidatenstatus für die Ukraine empfehlen.

STANDARD: Sie wirken gut gelaunt.

Forsjuk: Es sieht so aus, als ob die Europäische Kommission den Beitrittsstatus empfehlen wird. Für uns ist das eine Wertschätzung unserer Arbeit: der Umsetzung des Assoziierungsabkommens, das wir im Jahr 2014 unterzeichnet haben.

Natalia Forsjuk ist Generaldirektorin des Regierungsbüros für europäische Integration
Foto: Prugger

STANDARD: Im Februar, wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs, unterzeichnete Präsident Wolodymyr Selenskyj den Antrag für die Aufnahme in die EU. Warum genau zu diesem Zeitpunkt?

Forsjuk: Wir hatten keine Wahl, außer uns um den Beitritt zu bewerben. Vielleicht haben das manche in der Europäischen Union nicht mitbekommen, aber die Menschen in der Ukraine haben sich für den europäischen Weg entschieden. Weil der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch beschloss, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht anzunehmen, und eine tiefere wirtschaftliche Integration mit Russland anstreben wollte, hat die Maidan-Revolution stattgefunden. Mehr als hundert Menschen sind gestorben, wir haben das EU-Assoziierungsabkommen mit Blut unterzeichnet. Als Russland uns am 24. Februar 2022 angriff, haben wir unseren Standpunkt noch einmal klargemacht: Unsere Ambitionen sind seit der Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens sehr hoch. Deshalb haben wir in den vergangenen Jahren so hart an der Umsetzung von Reformen gearbeitet und hatten bis zum Krieg 63 Prozent umgesetzt.

STANDARD: Die Republik Moldau und Georgien haben es der Ukraine gleichgetan und ebenfalls einen Antrag gestellt. Was halten Sie davon?

Forsjuk: Wenn wir über Georgien und die Republik Moldau sprechen, ist es wichtig zu betonen, dass unsere Verpflichtungen und Fortschritte im Rahmen der Assoziierungsabkommen sehr unterschiedlich sind. Deshalb sehen wir unseren Antrag als eigenständig an. Wir verstehen, warum diese Länder angesichts der Gefahr einer russischen Aggression ebenfalls einen Antrag gestellt haben. Wir respektieren das. Aber wir wollen nicht, dass unsere Bewerbungen als gemeinsamer Akt wahrgenommen werden. Die Ukraine befindet sich in einer völlig anderen Situation. Russland hat uns angegriffen. Außerdem teilen wir eine sehr lange Grenze mit der EU.

STANDARD: Welche Konsequenzen sehen Sie in einer negativen Entscheidung der EU?

Forsjuk: Es wird ein schlechtes Signal sein. Nicht für die hochrangigen Beamten, die gegen Reformen sind. Sondern es wird diejenigen demotivieren, die mittlerweile zwei Drittel des Abkommens umgesetzt haben und bereit sind, die Reformen unter diesen bedrohlichen Umständen fortzusetzen. Andererseits wird es der russischen Propaganda die Möglichkeit geben, sich negativ über die Versprechen der EU an die Ukraine zu äußern und die Rolle der EU als Vorreiterin einer friedlichen Agenda auf ihrem eigenen Kontinent zu untergraben.

STANDARD: Die Ukraine befindet sich seit bald vier Monaten im Krieg. Welche Relevanz hat die Beitrittsdiskussion für die Menschen?

Forsjuk: Sie gibt uns eine Perspektive. Wir sehen den Kandidatenstatus als eine Energiequelle für all die Menschen, die unser Land an der Front verteidigen. Damit sie sehen, wofür sie ihr Leben riskieren. Jedes Land, das eine Grenze mit Russland teilt, weiß, dass die Expansionspläne Russlands weiter reichen. Das lehrt uns die Geschichte. Für die Ukraine ist ein Kandidatenstatus eine Anerkennung unserer Leistungen und ein Signal dafür, dass es sich lohnt, die europäischen Werte zu vertreten. Wir wollen ein Teil der europäischen Familie sein und sehen keine andere Zukunft für uns. Wir haben uns für diesen Weg entschieden.

STANDARD: Trotzdem gibt es noch immer EU-Länder, die skeptisch sind. Wen müssen Sie noch überzeugen?

Forsjuk: Wir sehen, dass viele Bürger in der EU unsere Ambitionen unterstützen. Aber wir wissen auch, dass viele Menschen in der EU in den vergangenen Jahren wenig davon mitbekommen haben, welche Verbesserungen und Reformen wir umgesetzt haben.

STANDARD: Fortschritte hat die Ukraine vor allem im Bereich Handel und Digitalisierung gemacht. Wo hat die Ukraine noch nicht ihre Hausarbeiten gemacht?

Forsjuk: In der Landwirtschaft müssen wir uns noch weiter an die EU annähern, aber auch hier sind wir bereits jetzt stark voneinander abhängig. Wir haben Antikorruptionsinstitutionen implementiert, aber die Umsetzung leidet unter dem Krieg. Ich bin davon überzeugt, dass wir unseren Fokus nach dem Krieg auf die Gerichte legen werden. Wir haben bereits gezeigt, dass wir keine leeren Versprechungen machen, sondern uns an die Abkommen halten. Der Umstand, dass wir uns einen Kandidatenstatus wünschen, bedeutet nicht, dass wir glauben, dass wir sofort der EU beitreten werden. Wir sind realistisch genug, um zu wissen, dass das zehn, 15 Jahre dauern kann. Aber gerade jetzt brauchen wir ein starkes politisches Signal. Und Russland braucht dieses Signal ebenfalls. (Daniela Prugger, 17.6.2022)