"Ich habe es nicht verstanden, dass ich so oft gefragt werde, warum ein Mann schneller läuft als eine Frau", sagt Nadine Keßler.

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Österreichs Fußballerinnen werden am 6. Juli im ausverkauften Old-Trafford-Stadion in Manchester die EM gegen Gastgeber England eröffnen. Erzählt man, dass man Nadine Keßler traf, ist etwa Teamspielerin Carina Wenninger begeistert: "Eine fantastische Fußballerin!" Und ÖFB-Teamchefin Irene Fuhrmann will wissen: "Was sagt sie zum Modus?" Nicht nur darauf weiß Ex-Weltfußballerin Keßler eine Antwort.

STANDARD: Die Basis für viele Diskussionen zum Frauenfußball ist der Vergleich mit dem Männerfußball. Soll man vergleichen? Muss man vergleichen? Soll man Vergleiche meiden?

Keßler: Der Vergleich bringt an und für sich nichts. Ja, es ist das gleiche Spiel, wir haben die gleichen Ambitionen, investieren die gleiche Zeit, haben die gleiche Leidenschaft. Aber es ist Fakt, dass der Männerfußball viel länger existiert. Wir mussten ein paar Jährchen später beginnen, weil alles nicht ganz so unterstützt wurde. Manche Dimensionen sind einfach unterschiedlich.

STANDARD: Die Vergleiche verlieren sich auch manchmal auf einer anatomischen Ebene.

Keßler: Damit war ich auch als Spielerin immer wieder konfrontiert und ich habe es nicht verstanden, dass ich so oft gefragt werde, warum ein Mann schneller läuft, als eine Frau. Das macht man doch auch in vielen anderen Sportarten nicht. Und trotzdem kann man Männerfußball und Frauenfußball mögen, auch wenn Unterschiede bestehen. Am Ende des Tages ist der Vergleich der zählt, die Frage, was uns hilft, weiter voranzukommen. Wir werden beispielsweise nie mit anderen Frauenteamsportarten vergleichen: Wir sind bei weitem der größte Frauenteamsport der Welt. Vielleicht hilft uns der Vergleich mit den Männern sogar, weil man dadurch mit dem größten Sport der Welt verglichen wird.

STANDARD: Die Aufmerksamkeit in den vergangenen Jahren ist jedenfalls größer geworden. Wurden die Erwartungen erfüllt?

Keßler: In den letzten fünf Jahren hat sich vor allem in der Wahrnehmung viel geändert – und das nicht nur in ein paar Ländern. Als ich selbst gespielt habe, gab es vereinzelte Hypes, vordergründig in den bereits erfolgreicheren Nationen, also in Deutschland, England, Spanien. Aber man hat nun gespürt, dass auch andere Länder wie Belgien, die Niederlande und auch Österreich hungrig geworden sind. Auf Nationalteamebene und auf Klubebene. Das gab es noch nie. Es steht eine Euro an, bei der man wirklich nicht sagen kann, wer gewinnt. Auch in der Champions League ist der Anspruch auf den Titel breiter geworden. Die Dichte hat sich vergrößert. Der Frauenfußball ist jetzt eine andere Nummer.

STANDARD: In der Champions League hat sich der Trend durchgesetzt, dass große, etablierte Vereine den Bewerb mit ihren Frauensektionen dominieren. Sie haben einmal gesagt, dass das ein guter Trend sei. Bleiben traditionelle Frauenvereine wie z.B. Turbine Potsdam da nicht auf der Strecke und werden vom System überrannt?

Keßler: Obwohl ich auch ein Verfechter der traditionellen Frauenvereine bin, muss man einfach sehen, dass die großen Männervereine die Gesamtheit des Frauenfußballs nach vorne bringen können. Da geht es vor allem um Marke, Reichweite, Infrastruktur, Manpower, aber auch Trainingsbedingungen und Spielbedingungen. Der Unterschied ist enorm. Denn da beginnt das Gefälle zwischen Männer- und Frauenfußball. Es geht nicht unmittelbar ums gleiche Gehalt, sondern darum, erst einmal die Allgemeinbedingungen auf eine Ebene zu bringen: Wie trainiert man? Wie reist man? Welche Qualitäten haben die Trainer? Was passiert rund ums Team?

STANDARD: In Österreich haben mit Rapid und Red Bull Salzburg der populärste und der erfolgreichste Verein kein Frauenteam. Was würden Sie ihnen ausrichten?

Keßler: Das Gleiche, das ich allen ausrichten würde, sei es Klub oder Verband: Man muss vielleicht manchmal ein bisschen längerfristig denken. Wie willst du deinen Klub oder deinen Verband aufstellen? Es geht da um die Mitglieder- und die Markenperspektive. Ich glaube, dass es eine verlorene Möglichkeit ist. Es geht darum, den Fußball noch größer und stärker zu machen. Sportlich, kommerziell, aber auch gesellschaftspolitisch.

STANDARD: Ein großes Thema sind die Zuschauerzahlen. In England und Deutschland wird es besser, in Österreich ist es katastrophal. Woran liegt das? Liegt das an uns Medien?

Keßler: Ja.

STANDARD: Oje.

Keßler: Zuschauerzahlen sind das Thema, das wir hinbekommen müssen, daran hängt vieles. Aber man kann nicht davon ausgehen, dass von heute auf morgen auf einmal Zuschauer da sind. Auf unserer, also der Champions-League-Ebene sind in dieser Saison einige Rekorde gefallen. Das liegt aber auch daran, dass wir das Format verändert haben, dass die Marke zentralisiert wurde und dass zum ersten Mal alle Spiele übertragen wurden. Es ist ein Gesamtpaket, das wieder einen Schritt vorwärts für die Wahrnehmung des Frauenfußballs ausgemacht hat. Auf Ligaebene bräuchte es mehrere Elemente und ein langfristigeres Denken. Es bringt nichts, einmal das Format zu verändern oder eine Promotion-Aktion zu starten und dann macht man wieder vier Jahre nichts. Es braucht ganzheitliche Strategien.

STANDARD: Es ist auffällig, dass aktive Fußballerinnen immer wieder Missstände aufzeigen und sich in der Öffentlichkeit kritisch äußern. Ist das ein Zufall?

Keßler: Nein, weil es einfach unsere Realität widerspiegelt. Und wenn man es dann geschafft hat, Profispielerin zu werden, hat man auch den Wunsch, dass es in Zukunft für Andere leichter wird.

STANDARD: Wenn Sie drei Wünsche für den Frauenfußball frei hätten – was wären die?

Keßler: Einerseits, dass wir fünf bis zehn professionelle Ligen in Europa hätten. Es können auch gerne mehr sein. Das würde den Sport bedeutend nachhaltiger machen und die Möglichkeit schaffen, auch auf nationaler Ebene Durchbrüche zu schaffen. Dann wäre Fußballerin auch ein Job und nicht nur für die paar wenigen Topstars, die es geschafft haben. Das würde sich auch auf die Wahrnehmung der Eltern auswirken und die Frage, ob ich mein Mädchen zum Ballett oder zum Fußball schicke. Und dass der Frauenfußball als Fußball wahrgenommen wird und wir nicht mehr so differenzieren, was den den Sport angeht. Und dass die Euro wieder ein Turnier wird, mit dem wir ein Ausrufezeichen setzen. Wir brauchen einfach viele Ausrufezeichen.

STANDARD: Wenn man sich die Biografien der österreichischen Teamspielerinnen ansieht, haben quasi alle begonnen mit Buben Fußball zu spielen. Woran liegt das?

Keßler: Das ist ganz speziell in Österreich und Deutschland so. In Skandinavien etwa will man die besten Mädchen nicht aus den Mädchenteams nehmen, weil die ja sonst schlechter werden. Dort ist es circa Hälfte-Hälfte. Es geht generell darum, Möglichkeiten zu schaffen: Also wenn ein Mädchen mit Mädchen spielen will, soll sie dazu die Möglichkeit haben. Und wenn sie lieber mit Buben spielt, soll sie das auch können.

STANDARD: In den Qualifikationen zu den Turnieren kommen immer wieder abenteuerliche Ergebnisse zustande, das Leistungsgefälle wirkt enorm. Sind Resultate wie ein 20:0 oder 19:0 nicht kontraproduktiv? Ist der Modus noch tragbar?

Keßler: Das stimmt absolut, und wir sind uns dessen bewusst, dass das Format nicht mehr zeitgemäß ist. Wir wollen das schon für den nächsten Zyklus ändern. Diese Resultate sind nicht nur für die unterlegenen Teams demotivierend, sondern für den Frauenfußball allgemein. Wir wollen für alle eine attraktive Lösung finden. Aber das Format ist nicht der einzige Grund.

STANDARD: Sondern?

Keßler: Während der Pandemie haben manche Ligen ihren nationalen Spielbetrieb ausgesetzt und wenn die Teams dann plötzlich auf internationaler Ebene gefordert sind, kann das schief für sie ausgehen. Es gilt also, dass alle auch auf nationaler Ebene ihren Job machen, Spiele müssen organisiert werden und stattfinden. Um die Lücke zu schließen, müssen die Länder, die in den letzten zwei Jahren abgefallen sind, wieder nachlegen.

STANDARD: Wie sehen Ihre Erwartungen für die Euro aus?

Keßler: Es wird jedenfalls eine Euro, die in ihren Dimensionen nicht vergleichbar ist mit vergangenen Euros. Wir freuen uns riesig. Wir hoffen noch auf ein paar mehr reisende Fans, die ihre Teams vor Ort unterstützen. Es überwiegt die Vorfreude.

STANDARD: Wo steht der Frauenfußball in zehn Jahren?

Keßler: In zehn Jahren wird der Frauenfußball weitestgehend so etabliert sein, dass sich die Frage nicht mehr stellt, ob Fußball etwas für Mädchen ist. Ich glaube auch dass der Fußball in der Kommerzialisierung noch für Schlagzeilen sorgen wird. Da sind wir erst am Anfang.

STANDARD: Abschließend: Ist der Begriff Frauenfußball noch adäquat? Wie wäre es mit Fußball?

Keßler: Wir können uns ganz schnell darauf einigen, dass wir es nur Fußball nennen sollten. Genau dort wollen wir hin. Das gilt auch für die Wahrnehmung nach außen. (Andreas Hagenauer, 19.6.2022)