Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag sollte infiltriert werden.

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Da er wie ein Deutscher aussah, nannten ihn die anderen in Brasilien "Gringo". Das sei der Grund gewesen, weshalb er nicht viele Freunde hatte und viel Zeit mit seiner Tante verbrachte. Seine Mutter stritt viel mit ihren Eltern aufgrund der ungeplanten Schwangerschaft – bis sie irgendwann den Kontakt abbrach und auf sich allein gestellt war. Später arbeitete er in einer Autowerkstatt. Dort hing zunächst ein Poster der mexikanischen Schauspielerin Verónica Castro – bis sie von Pamela Anderson ersetzt wurde. Und in die Geografielehrerin war er ein bisschen verliebt – wie alle Burschen in der Klasse.

Das alles klingt wie beliebige Schnipsel aus einem gewöhnlichen Leben – und das war auch der Sinn der Sache. Am Donnerstag gab der niederländische Geheimdienst (AIVD) bekannt, bereits im April einen russischen Spion enttarnt zu haben. Dabei wurden auch handgeschriebene Dokumente entdeckt, die der AIVD nun veröffentlichte (hier die englische Übersetzung).

Offenbar hat der Spion mit dem richtigen Namen Sergej Wladimirowitsch Tscherkasow das Schreiben selbst verfasst. Detailliert wird hier seine Tarnidentität beschrieben (Name: Viktor Muller Ferreira), seine Familiengeschichte sowie wichtige und unwichtige Vorlieben und Ereignisse in seinem Leben. Vermutet wird, dass er all das aufgeschrieben hat, um sich seine Tarnung besser einprägen zu können.

"Gut durchdachter Deckmantel"

Besonders bemerkenswert daran ist, dass das Dokument wohl rund um das Jahr 2010 verfasst worden ist. Das bedeutet, dass Ferreira alias Tscherkasow bereits seit etwa zwölf Jahren unter falschem Namen lebte. Laut AIVD verhüllte er durch seinen "gut durchdachten Deckmantel" alle Verbindungen zu Russland und besonders zu seinem wirklichen Arbeitgeber, dem russischen Militärgeheimdienst (GRU). Stattdessen gab er sich als brasilianischer Staatsbürger aus, dessen Eltern früh gestorben sind.

Danach lebte er demnach in Irland und in den USA, bis es ihn in zurück in die Heimat zog, wo er laut Tarnung auch geboren wurde. Seine Profile in den sozialen Netzwerken untermauerten die falsche Identität, dort ist er mit vielen früheren Studenten der Johns-Hopkins-Universität in den USA und dem Trinity College in Irland befreundet. Offenbar hat er dort selbst tatsächlich studiert. Laut einem Posting hat er die Johns-Hopkins-Universität im Jahr 2020 abgeschlossen.

Praktikum in Den Haag erhalten

In Brasilien schließlich hat er laut den dortigen Behörden seinen Umzug in die Niederlande vorbereitet. Denn Ferreira erhielt eines der 200 unbezahlten Praktika, die der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag jährlich vergibt. Dort hätte er laut AIVD großen Schaden anrichten können – auch weil der Strafgerichtshof derzeit wegen möglicher russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine ermittelt.

Klar war aber auch, dass die Bewerbung ein Risiko für den Spion darstellte, schließlich werden dabei auch gründliche Überprüfungen des Lebenslaufs durchgeführt. Doch offenbar, so die Behörden, waren die Moskauer Entscheidungsträger der Meinung, das Risiko sei es wert gewesen.

Am Flughafen geschnappt

Im April schließlich wurde der offiziell 33-Jährige bei seiner Einreise am Amsterdamer Flughafen Schiphol geschnappt, zur unerwünschten Person erklärt und in den nächsten Flieger zurück nach Brasilien gesetzt. Laut AIVD erwartet ihn dort ein Gerichtsprozess wegen Dokumentenfälschung. Von den brasilianischen Behörden gab es dazu aber noch keine Stellungnahme. Wie man dem Spion auf die Schliche gekommen sei, wurde nicht verraten.

Die Spione vieler Länder nutzen falsche Identitäten, um an Informationen zu gelangen, doch der Fall Ferreira/Tscherkasow zeigt, dass Russland sich auf "deep cover illegal agents" spezialisiert hat: Spione, die jahrelang daran arbeiten, eine detaillierte Tarnung als US-Amerikaner, Briten, Kanadier oder in diesem Fall Brasilianer zu entwickeln, um dann in Kreise zu gelangen, zu denen Russen in der Regel keinen oder kaum Zugang erhalten.

Uni-Professor erleichtert

Der IStGH kann also aufatmen, dass ihm ein russischer Spion erspart geblieben ist. Und auch Eugene Finkel zeigt sich erleichtert. Der Professor der Johns-Hopkins-Universität twitterte, dass ihn ein ein Student mit "brasilianisch-irischen Wurzeln" um ein Empfehlungsschreiben für den IStGH gebeten habe: "Ich habe ihm ein Schreiben verfasst, ein starkes. Ich habe für einen GRU-Agenten ein Empfehlungsschreiben verfasst. Darüber werde ich nie hinwegkommen. Ich bin so froh, dass er enttarnt wurde." (ksh, 17.6.2022)