Wolfgang Mueller, Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte an der Uni Wien, zieht in seinem Gastkommentar eine Zwischenbilanz der heimischen Ukraine-Politik im Krieg.

Die Ukraine kämpft um ihr Überleben. Täglich sterben im russischen Angriffskrieg hunderte Menschen, werden Häuser, Kindergärten, Stahlwerke, Getreidespeicher, Kirchen zerstört. Der Krieg richtet sich nicht nur gegen die Ukraine; Kreml-Medien attackieren den Westen insgesamt. Die Ukraine trägt die Hauptlast, wird aber von EU- und Nato-Staaten unterstützt. Eine Niederlage der Ukraine würde somit als Niederlage Europas betrachtet werden.

"Europa steht an Ihrer Seite." Macron sicherte Selenskyj in Kiew Solidarität zu.
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Bitteres Erwachen

Für Österreich stellt der Krieg ein bitteres Erwachen dar. War Präsident Wladimir Putin 2014 kurz nach seiner Krim-Annexion hofiert worden, lehnte Bundeskanzler Karl Nehammer nun den Weg Russlands klar ab. Er betonte die Solidarität mit der Ukraine, deren europäischen Charakter er anerkennt. Diese Haltung entspricht jener der EU und wird von allen Parteien bis auf die FPÖ geteilt. Der frühe Solidaritätsbesuch des Kanzlers in Kiew brachte Österreich dort viel Sympathie. Die riskante Mission bei Putin blieb erfolglos, verursachte aber dank umsichtiger Planung keinen Schaden.

In der Bevölkerung ist die Hilfs- und Spendenbereitschaft groß. Viele Frauen und Kinder wurden aufgenommen, Millionen Euro gespendet. Die Solidaritätsdemonstrationen in Wien wurden nicht von Parteien, Kirchen, Gewerkschaften organisiert wie andernorts, sondern von Künstlern und Aktivistinnen, "Nachbar in Not", Jugend und Zivilgesellschaft.

Moderate Hilfen

Österreich gestaltet und trägt Solidarität und Sanktionen der EU mit und leistet bi- und multilateral Hilfe. Die Maßnahmen betreffen vor allem drei Bereiche: Österreich liefert keine Waffen und ist daher humanitär gefordert. Laut Kieler Institut für Weltwirtschaft liegt Österreich bei Staatshilfen hinter kleineren EU-Volkswirtschaften wie Tschechien oder Dänemark. Nimmt man den Anteil der Hilfen am BIP (0,12 Prozent), bestätigt sich das Bild (Estland 0,97 Prozent; Tschechien 0,25). Laut Außenministerium sind die eigenen Hilfen etwas größer. 77 Prozent in Österreich befürworten laut Eurobarometer Hilfen, weshalb die Politik mit Großzügigkeit punkten könnte.

Sind die Staatshilfen für die Ukraine moderat, fließt nach Russland ein Vielfaches. Für Öl und Gas zahlten die EU-Staaten seit Kriegsbeginn laut Kostenrechner Beyond Coal knapp 61 Milliarden Euro. Von Österreich waren es laut Neos etwa 600 Millionen monatlich. Da Deutschland seine Abhängigkeit bereits von 55 auf 35 Prozent reduziert hat, erscheint Österreichs Ausstiegsplan bis 2027 wenig ambitioniert. 81 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher wollen den Ausstieg so rasch wie möglich.

"Kein Land hat so große Opfer für die EU-Annäherung gebracht wie die Ukraine, wo sich 91 Prozent zur EU bekennen."

Dem dritten Bereich, dem EU-Kandidatenstatus, kommt politisch enorme Bedeutung zu. Kein Land hat so große Opfer für die EU-Annäherung gebracht wie die Ukraine, wo sich 91 Prozent zur EU bekennen. Im Februar sprachen sich Bulgarien, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei und Slowenien für den Kandidatenstatus der Ukraine aus. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und zuletzt der deutsche Kanzler Olaf Scholz, der französische Präsident Emmanuel Macron, der italienische Premier Mario Draghi und der rumänische Präsident Klaus Johannis schlossen sich an.

Die Wiener Signale sind unklar. Bekannte sich Außenminister Alexander Schallenberg zum Kandidatenstatus, folgte des Kanzlers Vorschlag eines "Vorbereitungsraumes" für die Ukraine einer Idee des temporär im Wahlkampf unter Druck geratenen französischen Präsidenten. Die Idee ist alt – bereits 1990 wollte Frankreich die osteuropäischen Staaten in eine ähnliche Konstruktion abschieben. Nach dem Schwenk Macrons ist das nun obsolet. Nach acht Jahren EU-Assoziierung und vor dem Hintergrund des Krieges wäre ein Verfehlen des Kandidatenstatus enorm enttäuschend für die Ukraine, ein Zeichen fehlender Solidarität und Handlungsfähigkeit der EU und eine Einladung zur Fortsetzung des Krieges.

Am Scheideweg

Riskant wäre auch das vom Kanzler ventilierte Junktim zwischen dem Status der Ukraine, Moldaus und der Westbalkanstaaten. Es würde der Lage der Beitrittswerber ebenso wenig gerecht wie dem Überlebenskampf der Ukraine. Es käme einer Erpressung der EU-Partner gleich. Es gäbe Balkanstaaten, wovon einige noch gar keinen EU-Antrag gestellt haben und andere sich lieber nach Russland orientieren, Druckmittel in die Hand. Würde die Ukraine blockiert, wäre Österreich isoliert, die Beziehung zu Kiew zerrüttet, dem Balkan nicht geholfen und die EU als handlungsunfähig blamiert.

Nehammer betont, es müssten "dieselben Maßstäbe" angewandt werden wie auch bei anderen Beitrittswerbern aus dem Westbalkan. "Vor diesem Hintergrund wäre es für mich etwa nicht vorstellbar, der Ukraine einen Kandidatenstatus zu gewähren und zugleich Länder wie Bosnien-Herzegowina weiterhin außen vor zu halten", sagte er zur deutschen Zeitung "Welt".
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66 Prozent der EU-Bürgerinnen und EU-Bürger unterstützen den Beitritt der Ukraine, sobald sie bereit ist; in Österreich 54 Prozent. 85 Prozent in Österreich äußern "Sympathie" mit ihr. Trotz Nachholbedarfs bei der Korruptionsbekämpfung bescheinigen Expertisen der Ukraine große Fortschritte zu Rechtsstaat, Demokratie und Wirtschaftsreformen. Im Unterschied zu den EU-Kandidaten Serbien und Türkei unterstützt sie etwa 90 Prozent aller EU-Erklärungen in internationalen Fragen.

Das Schicksal der Ukraine, aber auch der EU und damit Österreichs steht am Scheideweg. Die österreichische Bevölkerung ist enorm hilfsbereit. Die Politik hat vieles auf den Weg gebracht, bei Hilfen, beim Gas und in Bezug auf die EU-Frage aber Potenzial. In allen Bereichen wünscht die Bevölkerung Fortschritte. Wenn Österreich die EU, die Demokratie und den Westbalkan stärken will, ist dem mit einem klaren Bekenntnis zum Kandidatenstatus der Ukraine am besten gedient. (Wolfgang Mueller, 18.6.2022)