Wir stehen an einer historischen Wende in Europa, und Österreichs Außenpolitik muss sich neu sortieren. Unsere alte Russland- und Putin-Versteher-Politik ist kaputt. Die Ukraine gehörte im westlichen Denken immer irgendwie zu Russland, zum großrussischen Reich. Das heißt zu einer imperialistischen, undemokratischen, uneuropäischen Macht. Wladimir Putins Russland ist nicht Europa. Die Ukraine will aber zu Europa gehören, und die Europäer antworten positiv.

Die Frage ist, ob die österreichische Politik – und die österreichische Bevölkerung – diese "Zeitenwende" begriffen hat. Putins Russland ist kein "Partner". In Putins Denken gibt es nur das Imperium und die Vasallenstaaten, inklusive Westeuropas. Der Mann fantasiert von Peter dem Großen.

Die Zukunft Europas

Gerald Knaus von der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) schreibt, dass es beim Krieg in der Ukraine um zwei "radikal verschiedene Visionen der Zukunft Europas" geht. Die von Putins Imperiumswahn aus dem 19. Jahrhundert und eine von einem Raum des friedlichen Interessenausgleichs, zu dem vielleicht, vielleicht auch einmal Russland gehören könnte. Österreich wollte das lange nicht wahrhaben. "Die Russen" haben uns schließlich die Neutralität verordnet. Wir dachten, wir kämen schon mit ihnen aus, wenn wir nett sind. Deshalb luden wir Putin gleich nach der Annexion der Krim nach Wien; fesselten wir uns unter dem wohlwollenden Blick von Putin und Sebastian Kurz ans russische Gas.

Wir spielten unser kleines Extraspiel. Auch als Kurz Österreich in die Nähe der Visegrád-Staaten rücken wollte, um eine rechtsautoritäre Gruppe in der EU zu bilden. Aber jetzt ist das nur noch dumm.

Kanzler Nehammer hat bezüglich Ukraines EU-Mitgliedschaft Spezialwünsche.
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Es ist auch tragisches Nichtbegreifen, wenn die SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner meint, Waffen und Sanktionen würden den Krieg nicht beenden: "Der Frieden muss auf diplomatischem Weg hergestellt werden." Ja eh, aber das geht erst, nachdem Putin (oder sein Nachfolger) durch Waffen und Sanktionen eingesehen haben, dass die Ukraine nicht mehr zu holen ist.

Österreichische Spezialwünsche

Die EU ist (mit der Nato im Hintergrund) Russland entgegengetreten. Österreich hat Spezialwünsche. Kanzler Karl Nehammer sagte, die Ukraine könne nicht gleich Mitglied werden, sie müsse in einen "Vorbereitungsraum". Einen Weg hat Knaus (übrigens der geistige Vater des Merkel-Erdoğan-Abkommens von 2016) vorgeschlagen: Die Ukraine solle zunächst Zugang zum EU-Binnenmarkt und den "vier Freiheiten" erhalten.

Österreichs Kanzler und Außenminister machen außerdem zur Bedingung, dass die Westbalkanstaaten (Serbien, Bosnien, Montenegro, Kosovo, Nordmazedonien, Albanien), die schon lange auf ernsthafte Verhandlungen zum Beitritt oder überhaupt erst den Kandidatenstatus warten, nicht zurückbleiben. Auch das ist argumentierbar. Aber darüber hinaus stellt sich die Frage, was sonst unsere Strategie in der neuen Zeit sein soll.

Hier könnten sich Österreich und seine "Russland-Versteher" nützlich machen. Wir haben Russland-Expertise? Vielleicht sogar gute Kontakte? Gut, dann setzen wir sie ein, nicht um mit dem Putin-Regime zu kuscheln, sondern um auf kluge, diskrete Weise russische Bürger und Bewegungen zu unterstützen, die etwas Besseres wollen als Putins hoffnungslos gestriges System.

Wenn man Österreicher nach dem Sinn der Neutralität fragt, sagen sie "Heraushalten". Man muss die Neutralität nicht aufgeben, aber "heraushalten" geht nicht mehr. (Hans Rauscher, 18.6.2022)