Am Lagerfeuer einer künftigen Zivilisation: Susanne Kennedys "Einstein on the Beach" war ein Höhepunkt der diesjährigen Festwochen.

Ingo Hoehn

Die Erwartungen an die diesjährigen Wiener Festwochen waren hoch, weil aufgestaut. Seit 2019 im Amt, konnte Intendant Christophe Slagmuylder bisher keine Saison aus freien Stücken programmieren. Zunächst übernahm er das Programmerbe des Vorgängers, dann kam die Pandemie. Der Frühling 2022 ließ nun erstmals freie Fahrt, Euphorie aber sieht anders aus. Zu kleinteilig, zu kleinformatig, zu versuchslastig blieben die Aufführungen, zu hermetisch das Festival an sich.

Wer genau las, hätte Bescheid wissen müssen. Die Wiener Festwochen unter Slagmuylder sind zu einer "Neuerfindung" angetreten, sie wollen mit der Auflösung von Disziplinen experimentieren, also "künstlerische Ausdrucksweisen verschränken". Deutlicher: Mit dem "Noch-nicht-Formulierten" sollte das Publikum überrascht werden, wie es im Prolog der diesjährigen Ausgabe hieß – sie geht diesen Samstag mit Theaterarbeiten von Nataša Rajković, Christiane Jatahy und Mónica Calle (s. aktuelle Kritik) zu Ende.

Mit "Nichtformuliertem" überraschte Jatahy in Depois Do Silêncio ("Nach der Stille") tatsächlich, indem sie die brutale, auf Landstreit basierende Familiengeschichte dreier Schwestern aus dem gleichnamigen Roman von Itamar Vieira Junior als changierende Mischung aus Schauspiel, Lecture und Dokufiction-Film inszenierte.

Das "Nichtformulierte"

Das Nichtformulierte – d. h. das Angedeutete, die sich selbst korrumpierende Erzählweise, die in Schwebe gehaltene Form, der zwischen Gefühlsfake und sachlicher Doku changierende Tonfall – war zäh zu rezipieren und endete als aktivistischer Aufschrei gegen Rassismus. Das ging nicht ohne Betroffenheitsklatschen.

Die Ansprüche an eine genuin gesellschaftspolitisch agierende Kunst wiegen schwer, Schauwerte und szenischer Genuss hingegen weniger. Auf Letzteres lässt sich einer wie Slagmuylder, der im Unterschied zu seinen Vor(vor)gängern das Festival gewissermaßen im Alleingang kuratiert und der Performance näher als dem Schauspiel steht, nicht ein – auch wenn Susanne Kennedy mit Einstein on the Beach, neben Gisèle Viennes L‘Étang ("Der Teich") einem der diesjährigen Höhepunkte, sehr wohl beides zu vereinen wusste: das Imaginationswunder und das zivilisatorische Gedankenexperiment.

Mit ihrer Ausrichtung entsprechen die Wiener Festwochen jedenfalls ganz einem Trend weg von bekannten Formaten und Stoffen hin zu einer mehr diskursiv denn ästhetisch definierten Kunst, in der wiederum mindestens ebenso sehr dem Entstehungsprozess wie dem Endprodukt Gewicht verliehen wird – ähnlich den Leitmotiven der soeben in Kassel eröffnenden Documenta: keine Leistungsschau, dafür das Miteinander suchen.

Viel Konzept, wenig Kunst

Keine Abspielstation im Festivalbetrieb zu sein, sondern Compagnien längere Zeit vor Ort tätig werden zu lassen, dazu hat sich Slagmuylder vorab bekannt. Daraus sind tatsächlich schöne Arbeiten entstanden, die konkret das Publikum vor Ort "meinen", wie etwa das Dialogtheater Close Encounters von Anna Rispoli, das Wiener Jugendliche zu Akteuren machte.

Dem Diskursgebot folgend wurde der deutsche Regisseur Christopher Rüping für sein Österreich-Debüt (!) deshalb auch nicht mit einer gefeierten Inszenierung wie etwa Das neue Leben eingeladen, sondern mit einer Monologrevue, die sich kanonkritisch mit Wagners Ring des Nibelungen befasste.

Ein Festival in der Größenordnung der Festwochen braucht aber echte Brummer mit Strahlkraft, die ins Publikum leuchten und andere Arbeiten mitziehen. Viele Fans fanden heuer aber keinen Weg ins Programm, auch wenn eine achtbare Auslastung von 83 Prozent erreicht wurde. Die in den Originaltiteln gelisteten Werke haben dazu wohl mit beigetragen. Wer weiß schon, dass mit "La Cerisaie" Tschechows Kirschgarten gemeint ist oder was sich hinter Só eu tenho a chave desta parada selvagem verbirgt? Griffiger wird das Festival so jedenfalls nicht.

Vergebene Möglichkeit

Auch Künstlerpech war im Spiel, handelte es sich bei den wenig reüssierenden Arbeiten, etwa Michiel Vandeveldes Joy 2022, doch um Weltpremieren. Auch haben manche Acts über die Pandemieverzögerung hinweg Patina angesetzt.

Bei der Kooperation mit den Musikensembles Wiens auf kleinere Formate zu setzen war an sich eine gute Idee. Niemand wünscht sich jene Zeit zurück, als die Festwochen versuchten, mit Großproduktionen im Theater an der Wien der Staatsoper Konkurrenz zu machen, und Experimente vernachlässigten. Ulla von Brandenburgs Friede auf Erden wurde heuer allerdings zum Beispiel vergebener inszenatorischer Möglichkeiten. Der Schönberg Chor konnte seine theatralischen Fähigkeiten nie ausspielen. Stringenter, jedoch auch unter seinem Potenzial geriet der Xenakis-Abend Kraanerg mit dem grandiosen Klangforum.

Auch noch so ambitionierte konzeptuelle Ansprüche können nicht als Schutzschirm für ihre zahme Umsetzung fungieren. Dem Publikum sollte man das "Ausformulierte" nicht vorenthalten, so steil es auch sein kann. Davon war heuer wenig zu vernehmen. (Margarete Affenzeller, Ljubiša Tošic, 18.6.2022)