Für Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron könnte es eng werden.

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Frage: Worum geht es am Sonntag?

Antwort: Zur Debatte steht die Frage, ob Frankreich in den nächsten fünf Jahren weiterhin aus der politischen Mitte oder klar von links regiert wird. Präsident Emmanuel Macron ist im April in zwei Wahlrunden für ein weiteres fünfjähriges Mandat wiedergewählt worden. Normalerweise sollten ihm seine Wähler in den anschließenden Parlamentswahlen eine Regierungsmehrheit zur Seite stellen. Das Wahlbündnis der Sozialisten, Grünen, Kommunisten und des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon, Nupes genannt, könnte Macron aber um die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung bringen. Mélenchon erhebt sogar Anspruch auf den Posten des Premiers.

Frage: Welchen Ausgang sagen die Umfragen voraus?

Antwort: Die Institute sagen der Macron-Allianz der Mitteparteien Renaissance (ehemals La République en Marche), Modem und Horizons etwas weniger als 300 Sitze voraus. Damit wird es knapp für die absolute Mehrheit, die in der Nationalversammlung bei 289 Sitzen liegt. Mélenchons Nupes (Neue ökologische und soziale Volksunion) werden bis zu 200 Sitze in Aussicht gestellt. Die Republikaner müssen wohl mit etwa 60 Sitzen vorliebnehmen, die Rechtsextremen von Marine Le Pen mit ungefähr 40. Da aber jeder der 577 Wahlkreise eigenständig wählt, fällt eine Prognose schwer. Zusätzliche Unsicherheit schafft die niedrige Beteiligung von 50 Prozent im ersten Parlamentswahlgang.

Frage: Ist eine "Cohabitation" möglich?

Antwort: Eine solche politische Zwangsehe zwischen einem Präsidenten und einem Premier unterschiedlicher politischer Couleur gab es in Frankreich mehrmals zwischen 1986 und 2002 – zweimal unter dem Sozialisten François Mitterrand, einmal unter dem Konservativen Jacques Chirac. Es waren Jahre der politischen Dauerspannung. Ein Gespann Macron-Mélenchon birgt enormen politischen und persönlichen Sprengstoff. Eine solche Konstellation wäre aber nur möglich, wenn die linke Nupes-Union die Parlamentsmehrheit erringt, und das halten die Experten für nahezu ausgeschlossen.

Frage: Wo stehen die Rechtspopulisten?

Antwort: Der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen hat im ersten Wahlgang gut abgeschnitten. Da aber die Lepenisten keine Wahlallianzen abschließen, dürften sie am Sonntag wegen des Mehrheitswahlrechts relativ wenig Sitze gewinnen. Immerhin haben sie erstmals überhaupt Chancen, in der Nationalversammlung Fraktionsstärke zu erreichen. Das verliehe ihnen mehr politische Sichtbarkeit. Mit ihrem betont sozialen Kurs dürften sie in der kommenden Legislaturperiode öfters gleich wie die Mélenchonisten stimmen. Eric Zemmours Partei Reconquête ist hingegen völlig eingebrochen; er selber verpasste in einem Wahlkreis in der Provence den Einzug in die Stichwahl.

Frage: Was wird Macron nun tun?

Antwort: Der Präsident wird in der populistisch gefärbten Nationalversammlung Mühe haben, zentrale Wahlversprechen wie die Pensionsreform mit dem Antrittsalter 65 durchzubringen. Ein politischer Gradmesser wird sein erstes Projekt sein, die Abschaffung der Rundfunkgebühr von jährlich 138 Euro für die Haushalte. Um die Nationalversammlung notfalls zu umgehen, plant Macron die Bildung eines "Nationalen Rates der Neugründung". Dort strebt er einen möglichst breiten Konsens zwischen Parteien, Sozialpartnern und Verbänden an. Mit ihrer Billigung hofft er einzelne Vorlagen besser durch das Parlament zu bringen. Doch die Inflation und die Staatsschuld könnten jeden Konsens oder auch nur Kompromiss vereiteln. Mélenchon und Le Pen wollen die Geldschleusen zumindest für Geringverdiener weit öffnen und laufen jetzt schon Sturm gegen die "neoliberale" Sparpolitik Macrons. Der Präsident wird deshalb in jeder Vorlage um eine neue Mehrheit kämpfen müssen. (Stefan Brändle aus Paris, 17.6.2022)