Protest als Berufung: An die 1000 bemalte Pappkartonpuppen hat das indonesische Kollektiv Taring Padi nach Kassel gebracht.

Foto: APA/AFP/INA FASSBENDER

Ein Highlight der diesjährigen Documenta ist ihre Osterweiterung. Soll heißen: Das kuratorische Kollektiv Ruangrupa scheute sich nicht davor, die Fulda zu überqueren und ein paar Ausstellungslocations im Kasseler Stadtteil Bettenhausen aufzustellen. Das mag jetzt zwar nicht wie eine sonderlich große Leistung klingen, denn dieser geheimnisvolle Osten ist drei Straßenbahnstationen vom Zentrum entfernt, aber tatsächlich war noch kein Documenta-Kurator vor Ruangrupa auf die Idee gekommen, sich dort umzuschauen. Dass Immobilienentwickler und die Stadt nun hoffen, der Osten könnte durch die Kunstausstellung eine Aufwertung erfahren, war wohl nicht die Idee des Kollektivs. Aber auch Ruangrupa kann nicht immer gegen den Kapitalismus und seine Erscheinungsformen wie Gentrifizierung gewinnen.

Die Ruangrupas hoben in Bettenhausen jedenfalls mehrere kleine Schätze wie die bröckelnde, nicht mehr im römisch-katholischen Einsatz befindliche Kirche St. Kunigundis, in der das haitianische Kollektiv Atis Rezistans sein widerständiges Unwesen mit menschlichen Überresten treibt, oder das Hallenbad Ost. Letzteres gehört zu den wenigen Gebäuden in Kassel, die dem Bauhaus-Stil zuzurechnen sind. Es ist seit 2007 außer Betrieb und wäre fast abgerissen worden, bevor der Denkmalschutz ein Veto einlegte. Schon wegen seiner Architektur und der Lauschigkeit des es umgebenden Parks ist das Bad einen Besuch wert und gehört sicherlich zu den atmosphärischsten Locations der Documenta 15.

1000-mal dagegen

Bespielt wird der Bau von einem einzigen Kollektiv, einem großen Vorbild Ruangrupas, den Protestpionieren mit Punk-Attitüde Taring Padi. Dieses aktivistische indonesische Kollektiv entstand aus den studentischen Protestbewegungen gegen Präsident Suharto, der das Land diktatorisch regierte und für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich war. 1998, als Suharto zurücktrat, nahm es seine Arbeit auf.

Taring Padi (zu Deutsch: Reis-Fangzähne), deren Mitglieder damals großteils auf der Kunstakademie in Yogyakarta studierten, brachten ihre "wayang kardus", auf Karton gemalte Figuren, in die fortlaufenden Proteste der Reformasi-Ära mit ein. Die Pappkartonpuppen sorgten nicht nur durch ihre Größe und ihren Farbenfrohsinn für Aufmerksamkeit, sie dienten auch als Schutzschilde vor der Polizei.

Im Hallenbad zeigen Taring Padi neben den "wayang kardus" aber auch riesige Banner und Holzschnittplakate aus den letzten 20 Jahren ihres Schaffens, während im Park vor dem Hallenbad wie auf dem Friedrichsplatz und anderen zentralen Orten der Documenta insgesamt an die 1000 der Pappkartonpuppen in der Erde stecken, darauf wartend, aktiviert zu werden.

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In Workshops auf der ganzen Welt mit unterschiedlichen Gruppen wie Schulkindern oder Migrantinnen entstanden Motive für den Protest, die während der Documenta in Umzügen zum Einsatz kommen werden. Jede Papppuppe ist individuell und doch Teil einer gemeinsamen Sache. Frauenrechte, Klimawandel, Verteilungsgerechtigkeit werden auf den Kartons thematisiert – es spielt keine Rolle dabei, ob ein siebenjähriger Schüler aus Kassel dafür verantwortlich zeichnet oder eine Kunstabsolventin aus Indonesien. Allein die Masse macht Eindruck. Und eventuell kann man sie sogar für Proteste gegen Gentrifizierung verwenden. (Amira Ben Saoud aus Kassel, 18.6.2022)