Die Stadt Sjewjerodonezk und das Chemiewerk Asot sind immer noch heftig umkämpft.

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Kiew/Moskau/Odessa – Die russische Armee hat Geländegewinne in der Nähe des schwer umkämpften Verwaltungszentrums Sjewjerodonezk erzielt, die einstige Großstadt selbst aber weiterhin nicht einnehmen können. "Durch den Beschuss und Sturm hat der Feind in der Ortschaft Metjolkine einen Teilerfolg erzielt und versucht sich dort festzusetzen", teilte der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht am Samstagabend mit. Metjolkine liegt südöstlich von Sjewjerodonezk.

Der Feind versuche, volle Kontrolle über die Autobahn zwischen Lysytschansk und Bachmut zu erlangen, sagte der Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj. Die russischen Truppen hätten damit aber keinen Erfolg und würden "in massiven Zahlen sterben". Die Lage in Sjewjerodonezk sei nicht mit jener in Mariupol zu vergleichen, weil die Stadt immer noch "mit allem was nötig ist" beliefert werden könne. Wie Hajdaj nach Angaben der Nachrichtenagentur Ukrinform weiter sagte, würden es die dort verschanzten Zivilisten ablehnen, das Chemiewerk Asot zu verlassen.

Raketenangriffe auf mehrere Orte

Im Bezirk Isjum wurde nach ukrainischen Angaben ein Gaswerk von russischen Raketen getroffen. Ein großes Feuer sei ausgebrochen und Rettungsteams seien im Einsatz, schrieb der Gouverneur der Region Charkiw. Im ostukrainischen Nowomoskowsk soll zudem ein Treibstoffdepot getroffen worden sein.

In der Stadt Krywji Rih im Zentrum der Ukraine schlugen nach Angaben der lokalen Behörden Raketen ein. Es gebe mindestens zwei Opfer, teilen die Behörden auf dem Kurznachrichtendienst Telegram mit. Es sei ein Bezirk im Süden der Stadt getroffen worden. Krywji Rih liegt in der Region Dnipropetrowsk. Umgekehrt berichteten die Separatisten in Donezk, dass durch Artilleriebeschuss der Stadt Zivilisten getötet und verletzt worden seien.

Friedensverhandlungen erst im August

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj besuchte indes die Regionen Mykolajiw und Odessa im Süden des Landes. Auf einem am Samstag erschienenen Video in seinem Telegram-Kanal ist zu sehen, wie Selenskyj Ruinen in Mykolajiw in Augenschein nimmt und nach einer Lagebesprechung Orden verteilt. Später berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Ukrinform, dass der Präsident auch Festungen der Nationalgarde in der Region Odessa besucht habe. Dort habe er ebenfalls Staatsbeamte dekoriert.

Die Ukraine stellt sich auf einen länger andauernden Abwehrkrieg gegen Russland ein. Erst Ende August, nach Gegenangriffen, will der ukrainische Chefunterhändler David Arachamija die Friedensverhandlungen mit Moskau wieder aufnehmen, wie er in einem am Samstag erschienenen Interview mit dem Sender Voice of America sagte. Dann werde sein Land eine bessere Verhandlungsposition haben.

Ukraine verzeichnet hohe Materialverluste

Russland verlor durch Angriffe des ukrainischen Militärs erneut ein Schiff seiner Schwarzmeerflotte. Der Schlepper "Wassili Bech" sei von ukrainischen Raketen beschädigt worden. "Später wurde bekannt, dass er gesunken ist", sagte der Militärgouverneur von Odessa, Maxym Martschenko, in einer Videoansprache auf seinem Telegram-Kanal. Eine Bestätigung von russischer oder unabhängiger Seite gibt es nicht. Den ukrainischen Angaben nach wurde das Schiff, das erst 2017 in Dienst gestellt und mit einem Luftabwehrsystem des Typs "Tor" ausgestattet worden war, von Harpoon-Raketen getroffen. Die Schiffsabwehrraketen hatte Dänemark an die Ukraine geliefert.

Die ukrainische Armee erlitt nach Angaben eines ranghohen Generals seit Beginn des russischen Angriffskriegs hohe materielle Verluste. "Bis heute haben wir infolge aktiver Gefechte schätzungsweise 30 bis 40, manchmal bis zu 50 Prozent Verluste bei der Ausrüstung", sagte der Brigadegeneral Wolodymyr Karpenko dem US-Magazin "National Defense". "Schätzungsweise 1.300 Infanterie-Kampffahrzeuge, 400 Panzer und 700 Artilleriesysteme wurden verloren."

Gefangenenaustausch zwischen Ukraine und Russland

Zwei in der ukrainischen Armee kämpfende und von moskautreuen Truppen gefangen genommene US-Soldaten wurden in russischen Medien vorgeführt. Er habe der westlichen "Propaganda" von den "schlechten Russen" geglaubt und sei deswegen in den Krieg gezogen, rechtfertigte sich einer der Männer im Interview mit der kremlnahen Zeitung "Iswestija", das das Blatt am Freitag auf seinem Telegram-Kanal zeigte. "In den westlichen Medien wird uns nicht gesagt, wie inkompetent und korrupt die ukrainische Armee ist", sagte er. Der zweite Gefangene trat beim Kremlsender RT auf. Er übermittelte nur einen Gruß an seine Mutter und sprach von der Hoffnung, nach Hause zurückkehren zu dürfen. Das ukrainische Verteidigungsministerium berichtete, dass fünf ukrainische Zivilisten für fünf russische Soldaten getauscht worden seien.

Scholz fordert EU-Reform

Die Ukraine will unterdessen möglichst schnell in die Europäische Union. Selenskyj betonte den Wert, den das auch für die EU hätte. "Unsere Annäherung an die Europäische Union ist nicht nur für uns positiv", sagte er in seiner Videoansprache in Kiew. "Das ist der größte Beitrag zur Zukunft Europas seit vielen Jahren."

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz stellte sich indes in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur hinter die EU-Beitrittsambitionen der Ukraine, forderte aber zugleich innere Reformen der Union, um diese erweiterungsfähig zu machen. Zwei Tage nach seiner Ukraine-Reise machte er dem russischen Machthaber Wladimir Putin schwere Vorwürfe. Dieser habe "furchtbare Schuld" auf sich geladen. Es sei "etwas anderes, wenn man die Zerstörungen mit eigenen Augen sieht und selbst spürt, dass an einem Ort konkret Menschen gestorben sind, dass in den Autos, die dort zerstört herumstehen, Familien saßen, die fliehen wollten und brutal erschossen wurden", schilderte der deutsche Kanzler.

Er rief zudem Russland auf, im Streit um ukrainische Getreideexporte einzulenken und einen Korridor durch das Schwarze Meer zu errichten. "Es kann ja nicht sein, dass die Getreideschiffe die ukrainischen Häfen verlassen und die russischen Kriegsschiffe die Häfen ansteuern." (APA, 18.6.2022)