Ein mit Planen gedecktes Dach ein Jahr nach der Katastrophe.
Foto: Christian Fischer

Erst Totenstille, dann ein Schnalzen, als ob jemand schießen würde: So erinnert sich Johann Bauer an den Moment, als die Katastrophe hereinbrach. Über Minuten prasselten Hagelkörner auf Schrattenberg herab. Manche waren größer als ein Tennisball.

Mehr als 90 Prozent der Dachflächen hatte der Ausläufer jenes Tornados, der jenseits der zwei Kilometer entfernten tschechischen Grenze für Tod und Verwüstung gesorgt hat, zerstört. Doch nicht minder bewegt habe ihn die Welle der Hilfsbereitschaft, die dem Unwetter vom 24. Juni 2021 gefolgt sei, erzählt Bürgermeister Bauer. Wer nicht mit anpacken konnte, der habe gespendet: "Einer ist persönlich mit dem Autobus aus Wien gekommen, um einen hohen Betrag zu übergeben."

Es ist ein Bild, das ÖVP-Politiker gerade in Niederösterreich besonders gerne zeichnen: das ganze Land eine Familie, in der Zusammenhalt noch zählt. Wer sich jedoch zwei Straßen weiter vom Gemeindeamt, auf dem Platz vor der Feuerwehr, frühmorgens umhört, bekommt eine andere Erzählung präsentiert. Statt um Solidarität geht es hier um Freunderlwirtschaft und Willkürakte.

Vor dem örtlichen Nah & Frisch steigt eine mit dem Selbstbewusstsein einer Spitzenpolitikerin gesegnete Frau aus dem Auto, die spruchbedruckte T-Shirts – "es war gar nicht so böse gesagt, wie es gemeint war" – zum Markenzeichen gemacht hat. "Tratschganslrunde" nennt Tatiana Fuchs die alternative Amtsstunde, die sie bei Zigaretten und Kaffee abhält.

Ungereimtheiten um den neu geplanten Kindergarten? Eine vom Nachbarn blockierte Ausfahrt? Die dank slowakischer Wurzeln mit auffälligem Dialekt ausgestattete Anführerin der oppositionellen Bürgerliste "Fair" klärt über Rechtsordnung, Bauvorschriften, Gemeindebeschlüsse auf – Establishment-kritische Interpretation inklusive. "Der Bürgermeister benimmt sich so, als wäre er allmächtig und unantastbar", sagt die 55-Jährige: "Aber ich zeige, was möglich ist."

Viele Gratisziegel für die Nichte

Die Dorfdamen, die beim morgendlichen Einkauf einen Zwischenstopp einlegen, steigen vor fremden Reporter-Ohren nur zögerlich ein. Sie könnte ja so viel erzählen, beteuert eine ältere Frau, aber in einer Gemeinde wie dieser, wo jeder jeden kennt, gelte es aufzupassen. Eine andere fasst sich mehr Herz. Also die Sache mit den Dachziegeln, sagt sie, sei wirklich "eine Schweinerei".

Bürgerlisten-Chefin Fuchs: "Der Bürgermeister benimmt sich so, als wäre er allmächtig und unantastbar."
Foto: Christian Fischer

Nicht nur Geld, auch manche Sachspende war nach dem Unglück in der Weinviertler Ortschaft eingetrudelt. Eine Firma etwa karrte ein ordentliches Kontingent an Ziegeln herbei. Ein großer Teil davon deckt heute einen Gebäudekomplex an der Hauptstraße, der im Besitz der bürgermeisterlichen Verwandtschaft steht. Andere hätten das Material viel mehr gebraucht als gutsituierte Weinbauern, echauffiert sich die Kritikerinnenrunde. Hier verweist man auf Häuser, die immer noch mit Planen versehen sind. Wer sein Domizil nicht ordentlich gegen Hagel versichert hatte, möge nicht "die hellste Kerze auf der Torte" sein, sagt Fuchs: "Aber helfen muss man allen, die es nötig haben."

Ortschef Bauer bestreitet den Sachverhalt nicht, sehr wohl aber manches Detail. Anders als von Fuchs kolportiert, gehe es nicht um 16 von 24, sondern um 17,5 von insgesamt 46 gespendeten Paletten à 240 Stück – was immer noch einen Anteil von fast 40 Prozent ausmacht. Weil sich eine Liegenschaft ihrer Familie wegen eines "Missgeschicks des Versicherers" als unversichert herausgestellt habe, hatte seine Nichte – sie sitzt ebenfalls für die ÖVP im Gemeinderat – um die Ziegel angefragt, erzählt Bauer. Er habe sie noch gewarnt, dass da ein "Aufschrei" folgen werde. Doch sonst habe sich niemand mehr um die Baustoffe bemüht: "Soll ich die Ziegel wieder vom Spender abholen lassen?"

Geheimes Spendenkonto

Außerdem habe sich die Nichte mit einer "namhaften Spende" an die Gemeinde revanchiert – was allerdings zum nächsten Aufreger führt. Denn Bauer legt das Spendenkonto, auf dem – wie er sagt – eine fünfstellige Summe liege, nicht offen. Das ärgert nicht nur Fuchs, die selbst als Gemeinderätin unter dem Gebot der Verschwiegenheit lediglich einen Gesamtbetrag, aber keine Auflistung zu Gesicht bekam. Ein Bürgermeister könne unmöglich ein Jahr lang auf Geld sitzen, ohne darüber Rechenschaft abzulegen, finden auch andere im Ort: Wo bleibe die Kontrolle, dass nichts abgezweigt werde?

Ortschef Bauer: "Es gibt nichts Schlimmeres, als Zwietracht in die Gemeinde zu tragen."
Foto: Christian Fischer

Es gehe um sensible Daten, begründet Bauer, nicht jeder Spender dränge an die Öffentlichkeit. Aber gewährt die Gemeindeordnung den Mitgliedern eines Gemeinderats nicht Einsicht in jene Akten, auf die sich die Verhandlungsgegenstände beziehen? Nicht das Ausmaß der Spenden, sondern nur die Verteilung derselben sei bei der letzten Sitzung auf der Tagesordnung gestanden, wendet der Bürgermeister ein. Dieser Punkt sei mit dem Beschluss, das Geld am Ende gleichmäßig auf alle Haushalte aufzuteilen, auch abgehakt worden.

Satte Übermacht für die ÖVP

Derartige Scharmützel liefern sich Bauer und Fuchs seit Jahren. Was mit Streitereien ums Baurecht begann, gipfelte 2020 in einem spektakulären Erfolg der Herausfordererin. Weil bei der Gemeinderatswahl in der Wahlzelle keine Kandidatenlisten hingen, erzwang Fuchs eine Wiederholung – und errang ein Mandat. Dieses ging zwar auf Kosten der SPÖ, während die ÖVP, ausgehend von 79 Prozent, sogar leicht zulegte. Doch in einem Weinbauerndorf, in dem schon aus purer Tradition schwarz gewählt werde, seien 49 Stimmen ein Durchbruch. "Viele Leute sind eingeschüchtert", sagt Fuchs, "aber insgeheim froh, dass ich die Schmutzarbeit mache."

Ja, sie sei penibel, sagt die aufmüpfige Lokalpolitikern, aber wenn sich der Gemeindeoberste rechtstreue Bürgerinnen und Bürger wünsche, müsse er sich gefälligst selbst an die Regeln halten. Die Galle steige ihr hoch, wenn ihr Bauer mit einem "Des moch ma scho' irgendwie" komme oder die Bitte um Akteneinsicht mit "kriagst net" abschmettere. Dass sie sich zu wehren weiß, belegt Fuchs mit einem Packen Papier. Darin finden sich gleich drei Beispiele, wo der Verwaltungsgerichtshof bürgermeisterliche Bescheide ausgehebelt hat.

Die Bürgerlisten-Chefin studiere eifrig die Gemeindeordnung, kontert Bauer spitz, doch jene Passage, die Einsatz zum Wohl der Allgemeinheit einfordert, überlese sie: Fuchs sei die Einzige in dem sonst nur vom letzten verbliebenen SPÖler vor der schwarzen Einfärbigkeit bewahrten Gemeinderat, "die immer nur dagegenarbeitet". Ständig versuche sie, ihm "wegen nichts" einen Strick zu drehen.

Juristisch sei die Kontrahentin offensichtlich gut beraten, muss der Ortschef zugeben, sonst würde ihr die "permanente Gratwanderung" nicht so gelingen: "Doch wenn sie einmal Fehler macht, hänge ich ihr eine Ehrenklage um und spende das Bußgeld der Feuerwehr. Denn es gibt nichts Schlimmeres, als Zwietracht in die Gemeinde zu tragen."

Mit Kübel zwischen den Beinen

In der Dorfbevölkerung lassen sich Verfechterinnen und Verfechter beider Versionen finden. Opposition sei ja okay, urteilt eine Bürgerin, die für einen schnellen Einkauf vor dem Greißler vorgefahren ist. Doch Fuchs gieße Öl ins Feuer und blase alles zum Skandal auf.

Er hätte sich vom Bürgermeister und seinen Gemeinderäten mehr erwartet, sagt hingegen ein anderer Dorfbewohner ein paar Hundert Meter den Hügel hinauf in Richtung Grenze. Etwa dass sie am Tag nach dem Unglück jedes Haus abklappern, ob vielleicht jemand etwas braucht. "Bei uns heroben haben wir aber nichts von ihm gesehen", berichtet der Schrattenberger: "Als Erstes kommen halt die Freunde dran." Nur Fuchs sei damals, "als alle durch den Wind waren", als Ansprechpartnerin sofort da gewesen.

Bei einem besseren Krisenmanagement hätten die Leute schneller Abdeckplanen für die Dächer erhalten, glaubt der Mann. Dann wäre am Folgeabend, als das nächste Unwetter Wolkenbrüche mitbrachte, bei ihm zu Hause und in so vielen anderen Häusern nicht das Wasser die Wände heruntergeronnen.

Bis weit nach Mitternacht habe er neben der Koordination der Hilfsaktionen mit verzweifelten Bürgerinnen und Bürgern Telefonate geführt, erzählt hingegen Bauer. "In so einer Situation liegen die Nerven blank, wofür ich volles Verständnis habe", sagt er, doch es sei unmöglich gewesen, 400 Wohnhäuser in 24 Stunden abzudecken: "Ich selbst bin die nächste Nacht mit dem Kübel zwischen den Beinen im Bett gelegen." (Gerald John, 20.6.2022)