Eigentlich dürfte es Atomwaffen, mit denen zuletzt Wladimir Putin gedroht hat, gar nicht mehr geben. Schon vor eineinhalb Jahren glaubten viele Diplomatinnen und Diplomaten, den Massenvernichtungswaffen mit Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrages (TPNW) einen kritischen Treffer verpasst zu haben. Manche waren gar überzeugt, zumindest den Anfang vom Ende von Nuklearwaffen eingeläutet zu haben. Eineinhalb Jahre später muss man konstatieren: Gerade einmal ein paar milde Kratzer haben die Massenvernichtungswaffen abbekommen.

Die Welt steht an einem Scheideweg: Die Angst vor dem Einsatz nuklearer Waffen ist dank des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine so groß wie schon lange nicht mehr. Sie könnte dazu führen, dass die Ächtung von Atomwaffen zunimmt und immer mehr Staaten ein allgemeines, generelles Verbot fordern. Oder aber auch – und das wirkt wahrscheinlicher – dass Staaten Atomwaffen wieder verstärkt als Versicherung gegen Angriffe von außen wahrnehmen. Hinzu kommt, dass autoritäre Staaten den Besitz von Nuklearwaffen als Freifahrtschein für territoriale Expansionsbemühungen ansehen könnten.

In transatlantischen Medien wie der New York Times oder dem Economist fällt immer wieder das Stichwort Taiwan. China könnte mit der vorgelagerten Insel denselben Plan verfolgen wie Russland mit der Ostukraine. Und der Westen ringt um eine Antwort.

Gleichgewicht mit drei?

In der weltpolitischen Großwetterlage spricht aktuell viel dafür, dass die Welt wieder mehr Atomwaffen bunkert. Die Ukraine war diesbezüglich aber nur ein "Brandbeschleuniger, nicht die alleinige Ursache", sagt Rüstungsexperte Martin Senn von der Uni Innsbruck. Dieser "emotionalen Reaktion" in Richtung mehr nuklearer Abschreckung zu folgen wäre aber "ein fataler Trugschluss", findet Botschafter Alexander Kmentt. Der Österreicher wird kommende Woche die erste Vertragsstaatenkonferenz zum Verbotsvertrag in Wien leiten. Zu groß sind die Gefahren der Waffe, zu groß ist das Risiko, wenn immer mehr Staaten diese Waffen besitzen, sagt Kmentt.

Eine mit Atomsprengköpfen bestückbare Agni-V der inoffiziellen Atommacht Indien.
Foto: AP /Manish Swarup

In der öffentlichen Wahrnehmung schlug das Pendel zuletzt erstaunlich schnell wieder in Richtung "Gleichgewicht des Schreckens" aus. Viele sind überzeugt, dass nur die Existenz von US-Atomwaffen die Ukraine und Europa vor einem erneuten Einsatz der mörderischen Waffen durch Russland gerettet hat. Bleibt die Frage, wie stabil so ein Gleichgewicht sein kann. Denn auch China rüstet sich zur atomaren Supermacht hoch. Die hunderten neuen Raketensilos nahe der Wüste Gobi, die vergangenes Jahr auf den Satellitenbildern westlicher Geheimdienste aufschlugen, sind ein Indiz dafür. Drei Atomsupermächte auszubalancieren ist ungleich schwerer, als zwei unter Kontrolle zu halten.

Alle rüsten auf und modernisieren

Aber auch Großbritannien rüstet auf, die USA, Frankreich und Russland modernisieren zumindest ihre Arsenale, alles im krassen Widerspruch zu Artikel VI des Nichtweiterverbreitungsvertrages (NPT). Dieser erlaubt den fünf permanenten Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats zwar offiziell den Besitz von Atomwaffen, zwingt sie aber auch, "in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen", um mit der "nuklearen Abrüstung" zeitnah voranzuschreiten und "einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung" zu finden.

Foto: Der STANDARD/Fatih Aydogdu

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Inkrafttreten des Vertrages gibt es zwar weniger nukleare Sprengköpfe, trotzdem sind die großen fünf klar vertragsbrüchig. Von Abrüstungsbemühungen ist aktuell nichts zu sehen. Dass diese "zeitnah" stattfinden, sowieso nicht. Die Überprüfungskonferenz des NPT im August steht ohnehin unter einem schlechten Stern. Nichtatomwaffenstaaten, die sich seit Jahrzehnten an ihre Seite der Abmachung halten, sind zusehends frustriert über die egoistischen Atommächte.

Hinzu kommt, dass sich mit Nordkorea, Pakistan, Indien und Israel vier Staaten außerhalb des NPT-Vertragswerks Nuklearwaffen zulegten und mit Südkorea, Japan, Iran, den VAE und Saudi-Arabien immer mehr Staaten den Bau oder auch die Stationierung von Atomwaffen befreundeter Staaten in Betracht ziehen – ausgerechnet auch Japan, das bisher als einziger Staat den Horror eines Atomwaffeneinsatzes gegen sich erlebte, neben den zahlreichen Testopfern. Staaten wie Kasachstan oder die Marshallinseln machen seit Jahren auf die furchtbaren Langzeitfolgen der Tests für ihre Bevölkerung aufmerksam.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron musste sich bei seinem Besuch in Französisch-Polynesien auch für die nukleare Testvergangenheit der Grande Nation entschuldigen und verantworten.
Foto: Ludovic Marin

Was machen Oslo und Berlin?

Mit Spannung wird bei der ersten Verbotsvertragsstaatenkonferenz erwartet, wie sich die sogenannten Nuklearschirm-Staaten verhalten werden – jene Staaten, die selbst keine Atomwaffen besitzen, durch Allianzen mit Atommächten aber durch solche geschützt werden. Belgien, Deutschland, Italien, die Niederlande und die Türkei haben sogar US-Waffen stationiert. Keiner dieser Staaten ist dem Verbotsvertrag bisher beigetreten. Fast alle boykottieren die Konferenz und den Vertrag – bis auf die Nato-Staaten Deutschland und Norwegen, die als Beobachter bei der Konferenz dabei sein werden.

Norwegens Anwesenheit kommt eigentlich nicht überraschend, gilt es doch als früher Verfechter der Abrüstung. 2013 fand in Oslo die erste Konferenz zu den humanitären Auswirkungen von Atomwaffen statt, die in gewisser Weise als Startschuss für den späteren Verbotsvertrag gilt. Ohne Norwegen gäbe es den Vertrag in seiner jetzigen Form nicht. Mit zunehmendem Nato-Druck und dem zwischenzeitlichen Wechsel hin zu einer konservativeren Regierung ebbten die Bemühungen um den Verbotsvertrag zwar ab, ganz aufgehört haben sie aber nie. Auch bei darauffolgenden Konferenzen in den ebenfalls sehr engagierten Ländern Mexiko und Österreich war Norwegen präsentes und aktives Mitglied.

Bei den ersten Atomtests waren sogar VIP-Gäste geladen.
Foto: imago images/Everett Collection

Grundsätzlich gebe es auch keine Vertragsklausel, die es Nato-Staaten verbiete, dem Verbotsvertrag beizutreten, sagt Kmentt. In der Praxis verunmöglicht es aber zumindest die nukleare Teilhabe. Im Verbotsvertragstext sind die Entwicklung, das Testen, die Produktion, der Erwerb, die Lagerung, der Transfer, die direkte oder indirekte Kontrolle, die Stationierung und der Einsatz von Atomwaffen, sowie die Drohung damit, untersagt. Würden Oslo oder Berlin dem Vertrag beitreten, müssten die in Deutschland gelagerten Atomwaffen verschwinden. Ob ein Weiterverbleib in der Nato möglich ist, müsste wohl diskutiert werden. Dass sich ausgerechnet Norwegen in einen solchen Clinch manövriert, während die nordischen Nachbarn zur Nato schielen, wäre eine besonders interessante, aber unwahrscheinliche Entwicklung in Nordeuropa.

62 Ratifizierungen

86 Staaten aus aller Welt, vor allem aber aus Mittel- und Südamerika, Afrika sowie Zentral- und Süd-Ostasien haben den TPNW bisher unterschrieben, 62 davon ratifiziert. Gut möglich dass in den kommenden Tagen noch vereinzelte Staaten des Globalen Südens hinzukommen. Aber was konnte der Vertrag in den vergangenen gut 18 Monaten erreichen?

Neben viel Bewusstseinsbildung haben auch erste Banken auf das internationale Vertragswerk reagiert und Firmen, die in die nukleare Rüstung investieren, aus ihren Portfolios gestrichen. Die Frustration über die Nichteinhaltung der Versprechen der fünf offiziellen Atommächte im NPT könnte zudem dafür sorgen, dass Staaten in einem kompletten Verbot eine wirksamere Alternative sehen.

Protest vor dem Deutschen Bundestag.
Foto: Tobias Schwarz / AFP

Vor allem der Globale Süden, der mit Atomwaffen ohnehin nichts zu tun haben möchte und sich zur atomwaffenfreien Zone erklärte, wird sich diese Frage vermehrt stellen. Immerhin würden diese Länder auch bei einem nur begrenzten Atomkonflikt unweigerlich durch entstehende Hungersnöte in den Konflikt hineingezogen werden. Viele fragen sich schon heute, wie lang man sich von der alten Weltordnung noch vorführen lassen will.

Nach einem wirklichen Umdenken der Atomwaffenstaaten – etwa auch auf Druck der Bevölkerung – sieht es gerade nicht aus. Die Zeit der Massenproteste gegen Atomwaffen ist vorerst vorbei, glaubt auch Martin Senn. "Gerade in einer Zeit, in der sich die Rüstungsdynamiken intensivieren", sagt Senn, sei es wichtig, "dass der Verbotsvertrag das Ziel der nuklearen Abrüstung rechtlich festschreibt. Ob und wie viel Bewegung in den Verbotsvertrag tatsächlich kommt, wird sich aber erst nach den beiden großen Atomkonferenzen im Sommer weisen. (Fabian Sommavilla, 20.6.2022)