Auch in der heimischen Bergwelt geht die Biodiversität rasant zurück. Forschende fordern einen globalen "grünen Marshallplan" zur Rettung der Artenvielfalt.

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Im kommenden Herbst werden Expertinnen und Experten im chinesischen Kunming die weltweite Biodiversitätspolitik bis 2050 diskutieren. Für die Wissenschafterinnen und Wissenschafter ist bereits klar: "Der Planet braucht einen 'grünen Marshallplan' – eine gemeinsame Kraftanstrengung, um die Naturzerstörung zu stoppen", meint der am Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg tätige Forscher Piero Visconti. Er ist einer der Mitverfasser eines Aufrufes an die Politik, Maßnahmen zu setzen, die das fortschreitende Artensterben unterbinden.

Kurswechsel möglich

In dem im Fachjournal "One Earth" erschienenen Beitrag zeigen die mehr als 50 Wissenschafter, zu denen auch der Ökologe Franz Essl von der Universität Wien zählt, dass es noch möglich wäre, das Ruder beim mittlerweile dramatischen Artensterben herumzureißen – "allerdings nur, wenn umgehend und planvoll gehandelt wird", betonen sie in der Arbeit. Die Biodiversitätskrise werde immer greifbarer, es brauche daher grundlegende Änderungen.

Diese müssten in Richtung "einer nachhaltigen Wirtschaft" gehen, "um einen Biodiversitätskollaps mit unabsehbaren Folgen für die Menschheit zu vermeiden. Diese Änderungen sind umsetzbar, und sie werden darüber entscheiden, ob wir die Biodiversitätskrise gemeinsam mit der Klimakrise erfolgreich bekämpfen können", so Essl.

Als einen der Eckpunkte des im Wording an den von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg initiierten Marshallplan zum Aufbau vieler vom Krieg zerstörter Gebiete der Welt angelehnten "grünen Marshallplans" formuliert das Team einen bereits mehrfach von Experten vorgetragenen Punkt: die Ausweitung der Schutzgebiete auf insgesamt 30 Prozent der gesamten Landes- und Meeresfläche bis zum Jahr 2030.

Naturzerstörung muss bestraft werden

Dazu brauche es insgesamt bessere Raumplanung, ein Management für die aktuell rund 22.000 gefährdeten Tier- und Pflanzenarten und eine Renaturierung von Flächen. Ebenso müsse man nachhaltige Landnutzung sowie die Vermeidung von Umweltverschmutzung vorantreiben und gegen das Einwandern invasiver Arten vorgehen, die die angestammte Flora und Fauna verdrängen.

Letztlich müssten die Spielregeln derart geändert werden, dass "Naturzerstörung bestraft wird, während der Schutz und die nachhaltige Nutzung von Natur sich lohnen muss", so Visconti vom IIASA. Das müsse möglichst rasch geschehen. Es dauere laut Essl nämlich mitunter "Jahre, manchmal Jahrzehnte, bis sich Arten und Lebensräume von zerstörerischen Einflüssen erholen". So täten sich bekanntermaßen Wolf und Luchs seit ihrer Ausrottung in Österreich im 19. Jahrhundert weiter besonders schwer, hierzulande wieder Fuß zu fassen.

"Auch in Österreich ist der Handlungsbedarf groß", so der Ökologe. So müssten bestehende Schutzgebiete besser geschützt sowie weitere eingerichtet werden. Dazu müsse etwa "die Biodiversitätsmilliarde, die der Österreichische Biodiversitätsrat seit Jahren fordert, endlich Realität werden".

Komplexe Umweltverschmutzung bedroht Artenvielfalt

Dass insbesondere der Verseuchung der Umwelt durch Giftstoff Einhalt geboten werden müsse, geht aus einer aktuellen Studie im Fachjournal "Science" hervor. Von Entscheidungsträgern würde allerdings die Komplexität dieser Umweltverschmutzung unzureichend erfasst, meinen sie und appellieren dafür, im aktuellen Entwurf für ein neues Biodiversitätsabkommen mehr Umweltschadstoffe zu berücksichtigen.

Anlass für den Appell der internationalen Forschergruppe um Gabriel Sigmund vom Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft der Universität Wien und Ksenia Groh vom Wasserforschungsinstitut Eawag (Schweiz) sind die ab 21. Juni in Nairobi (Kenia) stattfindenden internationalen Verhandlungen zu einem neuen Biodiversitätsabkommen ("post-2020 Global Biodiversity Framework"). Im Entwurf zu dem Abkommen werde chemische Verschmutzung zwar erwähnt, dabei aber nur Nährstoffe, Pestizide und Plastikmüll berücksichtigt. Das Papier "greift damit zu kurz", so Sigmund.

Viele Giftstoffe nicht berücksichtigt

Damit werde das Abkommen der immensen Vielfalt menschengemachter Chemikalien nicht gerecht. So seien bisher im Entwurf für das Abkommen toxische Metalle, Industriechemikalien, Chemikalien aus Konsumgütern, Arzneimittel sowie die oft unbekannten Umwandlungsprodukte dieser Chemikalien nicht berücksichtigt.

Bedrohlich für die Artenvielfalt seien diese Chemikalien nicht nur, weil sie Tiere und Pflanzen direkt vergiften können. Sie würden auch indirekt auf Organismen wirken, indem sie deren Lebensbedingungen und Funktionen beeinträchtigen. Das könne zum Rückgang oder sogar zum Aussterben empfindlicher Arten beitragen. Als Beispiel nennen die Forscher die Bedrohung der Populationen von Schwertwalen vor den Küsten Kanadas, Brasiliens, Japans und Gibraltars, die hohe Konzentrationen von Industriechemikalien in ihrem Körper aufweisen.

Sinkende Widerstandsfähigkeit

Eine weitere Gefahr sehen die Forscher in der Verringerung der genetischen Vielfalt von Pflanzen und Tieren, wenn sich diese an die chemische Belastung anpassen. Damit sinke aber auch ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Stressfaktoren wie der globalen Erwärmung. "Solche indirekten Effekte der chemischen Verschmutzung und unzählige weitere Wechselwirkungen mit anderen Stoffen, die die biologische Vielfalt und die Ökosysteme bedrohen, werden ignoriert, wenn der Fokus auf Nährstoffe, Pestizide und Plastik begrenzt wird", betonte Sigmund. (red, APA, 20.6.2022)