Im Gastblog präsentiert Alexander Keppel einen Auszug aus seinem postfaktischen Debütroman "Der Zweite Kontinent". Mit einem Vorwort von Sama Maani.

Ein großer Teil der Alternate-History-Romane wie Philip K. Dicks "Man in the High Castle" oder "Fatherland" von Robert Harris laboriert an der Frage: Was wäre, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte? Visionen des "Kunstschrecklichen" – verbunden mit dem Gefühl der Erleichterung, dass jene Dystopien sich real nicht verwirklicht haben, es also nicht noch schlimmer gekommen ist, nachdem es doch schon am schlimmsten kam. "Der Zweite Kontinent" ist ein Roman dieses Genres, in dem es – allerdings umgekehrt – um nichtverwirklichte Utopien geht; im Grunde eine utopische Gegenfiktion der Realität. Um mit Walter Benjamin zu sprechen, geht es hier vielmehr um Möglichkeiten, die in der Welt angelegt waren, aber nicht eingelöst wurden. Ein solcher Roman bewirkt das Gegenteil von Erleichterung, nämlich Nostalgie; diese jedoch nicht als Trauer über das, was war, sondern über das, was hätte sein können und eben nicht war: uneingelöste Versprechen der Geschichte.

Einen Roman, der einen österreichischen "Kronkontinent Austrialia" imaginiert, durch dessen dünnbesiedeltes Zentrum "Sackerlzöglinge" hüpfen und in dessen Hauptstadt "Neu Pressburg" Otto Wagner und seine Schüler ihre Vision der unendlichen Großstadt umgesetzt haben, traut sich in Österreich vermutlich nur ein Deutscher zu schreiben ...

Sama Maani

Alexander Keppel, "Der Zweite Kontinent". 21,– Euro / 265 Seiten. Drava-Verlag, 2022
Foto: A. Keppel

"Es war eine Zigarette gegen mich"

In Hemdsärmeln, nur mit einem leichten Überzieher, verließ ich fluchtartig die Wohnung im Rüdigerhof, einem eleganten Jugendstilgebäude des Otto-Wagner Schülers Oskar Marmorek in der großen Hamburger Straße und betrat es gleich wieder an der Stirnseite durch den Eingang des gleichnamigen Kaffeehauses. Marmorek ist wie viele seiner Glaubensgeschwister dereinst auf den Kronkontinent übersiedelt, wo das Klima für die Juden nicht so vergällt war wie im Wien Karl Luegers.

Der vertraute Duft von frischen Semmeln, Eiern, Kaffee und Konfitüre von heute und dem Tabakrauch unzähliger Gestern lag in der Luft. Mein Lieblingsplatz, die Sitzgruppe links neben der Tür oder das Rondell, wie ich es gerne für mich nannte, war zum Glück frei. Ober Admin, ein patenter Bosniake, der hier das Regime führte, sah mich gleich und rief in breitestem Wienerisch:
"Jössas, Felix! Du schaust ja aus wie a Gespenst, Oida! Was ham's mit dir g'macht in Tirol?" "Fragen's nicht, Admin!", sagte ich müde und winkte ab, froh wieder da zu sein.
"Bringen's mir bitte einen Verlängerten, schwarz, und ein weiches Ei mit einer gebutterten Semmel, wie immer?" "I glaub, was du brauchst is a Stamperl", sagte er.
"Ja vielleicht auch das, später", erwiderte ich matt.
Darauf steckte ich mir aus Gewohnheit eine Zigarette an, obwohl ich keine Lust hatte zu rauchen. Es war eine Zigarette gegen mich. […]

Alexander Keppel veröffentlichte im Mai 2022 seinen Debütroman "Der Zweite Kontinent".
Foto: Jacqueline Neubauer, 2021

"Ihre Sprache konnte diesen Worten kein Gefäß sein"

Neben jenen Gästen, mit denen man um diese Stunde hier rechnen konnte, hatten sich auch eine Gruppe preußische Touristen ins Kaffeehaus verirrt. Ich sage bewusst verirrt, denn der Rüdigerhof in Margarethen lag nicht auf ihren üblichen Routen. Es handelte sich um eine kleine Familie – Mutter, Vater, Kind. Ihre fade, gerade Sprache polterte ungelenk durchs Lokal. Vor allem das schneidende Organ der hohlwangigen, quittehaarigen Protestantin in ihrem schlichten, dunkelblauen Kleid mit dem nicht mehr ganz weißen Spitzenkragen, war kaum zum Aushalten – besonders in meinem Zustand. Ich stellte mir vor, dass sie nach Kohlsuppe, Kernseife und Mottenkugeln roch. Laute und schlecht angezogene Piefke waren wirklich das Letzte, was ich gerade gebrauchen konnte. Nun drehten und wendeten sie umständlich und raumgreifend eine große Faltkarte Wiens, wischten mit ihren Fingern darüber und stießen Straßen- und Ortsnamen aus: Obere Zollamtsstraße, Hoher Markt, Kärntner Ring, Maria am Jestade, Aujarten … Sie sprachen diese Namen aus, ließen sie durch ihre Körper fahren, doch waren ihre Worte, obwohl es ja auch Deutsch war, das sie da sprachen, so unendlich weit weg von deren richtigem Klang. Jedes ungarisch, tschechisch, tirolerisch oder küstenländisch gefärbte Deutsch wäre um so vieles näher dran. Ihre Sprache konnte diesen Worten kein Gefäß sein. Es klang alles falsch.

"Hörn'se mal Meester, wo bleibt'n jetze' unser Kaffe?"

"Juter Mann …", rief nun der Gatte der kärglichen Protestantin Admin zu, die Karte ruckartig und falsch zusammenfaltend. Er war ein untersetzter Mensch mit madenfarbener Haut, Fliehkinn und Fliehstirn und ebenso aus der Stirn fliehendem, dackelrauhem Bürstenhaar. Überhaupt erschien mir sein Gesicht, als sei er von Potsdam oder Stettin auf dem Zugdach nach Wien gereist. Admin, der gerade im Begriff war, mir mein Frühstück zu bringen, war derlei Ansprachen nicht gewöhnt und warf nervös den Kopf zur Seite. Dabei stieß er beinahe mit Dr. Shirin zusammen, die ihn mit einem spitzen Schrei: "Admiiiin!", gerade noch warnen konnte, bevor er mit seinem Tablett weich in ihr gelandet wäre.

"Admin, ruhig Blut!", quiekte sie und patschte ihm mit ihrer melangebraunen, goldberingten Hand auf die Schulter. Admin verschnaufte und schaute dann den Deutschen in seinem unfreiwillig-exzentrischen, ochsenblutfarbenen Dreiteiler und dem buschigen Schnauzbart mit verzerrter Miene an. Dieser fuhr nun fort:
"Hörn'se mal Meester, wo bleibt'n jetze' unser Kaffe? Ick weeß, ihr habtet hier unten ja jerne n bisschen jemütlicher, aber wenn ditt no länger dauert, kannste ma gleich n' Pils bringen, wa …", sprachs und zwinkerte leutselig.

Admin, den man nach Wiener Maßstäben mindestens als goschat bezeichnen konnte, war so viel ungepolsterte, teutonische Direktheit nicht gewohnt. Entsetzen lag in seinem Blick. Amüsant, selbst ihn, der hier immer alles im Griff hatte, kurz so aus dem Konzept gebracht zu sehen. Doch fand er schnell seine Fassung zurück. Mit einem Blick, in dem Servilität und Mordlust eine interessante Allianz eingingen, besah er sich kurz die preußische Kleinfamilie, zu der auch ein mondgesichtiger, rothaariger Bub von fünf oder sechs Jahren zählte, der überall auf dem Marmortisch seine Zinnsoldaten verteilt hatte.

"Die fühlen sich bei uns leider auch schon wie zuhause."

"Kleiner Brauner und Melange. Kommt sofort, der Herr, meine Dame …", flötete er formvollendet und landete nun endlich an meinem Tisch. "Bist narrisch, diese Piefke …", raunte er, als er mir das Silbertablett mit dem Verlängerten und dem Glas Wasser und das andere mit weichem Ei und der gebutterten Semmel servierte.

"Jaja", seufzte ich. "Die fühlen sich bei uns leider auch schon wie zuhause", Admin stöhnte bestätigend.
"Ach Admin, sind Sie bitte so gut und geben mir noch die Zeitung?"
"Sicher", schnaufte er, fischte die Neue Freie Presse vom Zeitungstisch und reichte sie mir herüber.
"Danke Admin und sagen Sie, funktioniert eigentlich der Fernsprecher inzwischen wieder? Ich müsste später mal telefonieren."
"Ja", sagte er, "rennt wieder. Entschuldige mich kurz, Felix, ich möchte mich jetzt mal kurz um unsere Deitschn kümmern ..."
Sein Gesichtsausdruck bekam dabei einen unheilvollen Glanz.
"Natürlich …", sagte ich und ahnte nichts Gutes.

"Kaiserin Eleonora interessierte sich allerdings nicht sonderlich für Energiepolitik."

Ich warf derweil einen Blick auf die Schlagzeile: Erzherzog Ludwig setzt ersten Spatenstich für weiteren Windkraft-Rotorenpark auf Neu Istrien. Baubeginn April.

Aufgrund der äußerst starken Winde an der Westküste Neu Istriens hatte man sich nun doch entschlossen vor den Ufern jener durch ihre keilartige Form nach dem kleinen, adriatischen Istrien benannten Insel, südöstlich des Kronkontinentes, noch mehr von den Windkraft-Rotoren der Gebrüder Hütter zu bauen. Obwohl es auf dem Zweiten Kontinent ausreichend Kohlevorkommen gab, war die Nutzung der Windkraftgeneratoren zur Energiegewinnung eine formidable Idee! Ich fragte mich schon lange, warum wir nicht hier in den Altlanden, etwa an der Adria oder den ungarischen Steppen, schon längst auch diese Form der Energiegewinnung nutzten. Kaiserin Eleonora interessierte sich allerdings nicht sonderlich für Energiepolitik und überdies bezogen wir Gas und Öl aus der E.V.U., der Eurasischen Volksunion – unserem östlichen, kommunistischen Nachbarn – zu äußerst vorteilhaften Konditionen. Kein Grund also etwas zu ändern, dachte man sich in der Hofburg und im Reichsrat. Darüben war man da durchaus fortschrittlicher. Überhaupt gingen ja viele auf den Zweiten Kontinent, die mit ihren Ideen und Visionen in Europa nicht weiterkamen. […]

"Überhaupt gingen ja viele auf den Zweiten Kontinent, die mit ihren Ideen und Visionen in Europa nicht weiterkamen."

Admin hatte inzwischen aus Versehen die Melange und den Kleinen Braunen über dem Schoß des Preußen verschüttet. Er entschuldigte sich bei dem Mann nach allen Regeln der Kunst und hielt sich übrigens schadlos, da er es geschafft hatte, im Stolpern selbst ein "Aua!" auszustoßen, um sich anschließend bühnenreif mit theatralischer Miene einen Zinnsoldaten unter der Sohle hervorzuzaubern. Der Preuße jaulte auf, als sich die heißen Getränke über den Tisch und seinen Hosen ergossen.

"Sie Rindviech! Hamm'se keene Augen im Kopp Mensch?! Meen juter Anzuch!"
Die Frau hielt sich mit beiden Händen ihre langen Wangen, schüttelte den Kopf und wiederholte wie eine Schwachsinnige ihr Mantra:
"Oh, oh, oh, oh, oh, oh, oh, oh …"
"Oh nein! Ich bin untröstlich!", rief der verschlagene Admin und hieb sich mit der flachen Hand an die Stirn.
"Ich Trottel! Das tut mir furchtbar leid! Die Rechnung und auch die für die Putzerei gehen selbstverständlich aufs Haus!", rief er, als er mit einem Fetzen, den er interessanterweise schon dabeihatte, die braune Kaffeebrühe, in der nun die Zinnsoldaten schwammen, zusammenwischte.
"Und die Frau Gemahlin und der Bub haben eh nichts abbekommen? Darf ich Ihnen bitte dasselbe nochmal bringen? Und ein Stückerl Kuchen aus der süßen Vitrine nach Wahl? Auch aufs Haus selbstverständlich!"
Der Preuße sprang auf, wobei er fast seinen Sessel umwarf.
"N' Puckel kannste ma runterrutschen, du Pinguin!", brüllte der erregte Mensch mit der wärmenden Kaffeeschürze um die Lenden.
"Komm Ute, wir jehen! Ditt jibt's ja nich! So'ne Sauerei, Mensch! Los Jens, meen Junge, pack deine Langen Kerls ein!", herrschte er das rothaarige, sommersprossige Kind an, dessen stoischer Gesichtsausdruck sich auch nach diesem Ereignis kaum verändert hatte.
"Jipts ja nich! So'n Verein!", schnaufte er, als er sich seinen beigen Mantel und eine groteske, schillernd braune Fellhaube vom Garderobenständer klaubte, mit der er noch idiotischer aussah als zuvor. Sollte dieser pelzige Kopfputz womöglich sein zurückgehendes Haar kaschieren?
"Ich glaube, der gehört dir …", sagte Admin zu Sohn Jens und reichte ihm den Zinnsoldaten mit dem verbogenen Bajonett.
"Ein reizender Bub, gnädige Frau!", charmierte er noch zur Mutter, die immer noch den Mund ihres wässrigen Fischgesichtes offenstehen hatte. Dann stapfte der Preuße samt seiner Familie im Schlepptau geräuschvoll zur Tür heraus. (Alexander Keppel, 27.6.2022)