Verfassungssprecher Patrick Gasselich (links), Klubobmann Markus Wölbitsch und Integrationssprecherin Caroline Hungerländer sprechen sich – wenig überraschend – gegen Reformen bei der Einbürgerung aus.

Foto: Wiener Volkspartei/Garima Smesnik

Es ist Wahlkampfzeit. Das will die Wiener ÖVP in der seit Wochen köchelnden Debatte rund um den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft erkannt haben. Ein politisches Kalkül, potenzielle Wähler zu akquirieren, ortet Klubobmann Markus Wölbitsch da beim Vorstoß von Bundespräsident Alexander Van der Bellen, die Hürden für die Erlangung zu senken, dem sich auch die SPÖ und Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) anschlossen. "Kein billiger Massenartikel, der hergeschenkt wird", dürfe die Staatsbürgerschaft sein, wiederholte Wölbitsch am Montag auf einer Pressekonferenz die bekannte Linie der Bundes-ÖVP, die jeglicher Reform bisher eine Absage erteilte.

Akuten Reformbedarf sieht die Wiener ÖVP woanders: Bei der Wiener Magistratsabteilung (MA) 35, zuständig für "Einwanderung und Staatsbürgerschaft", die das Bundesgesetz als Landesbehörde vollzieht. Eigentlich steckt diese bereits seit Herbst 2021 in einem Reformprozess, grobe Verfahrensverzögerungen stünden trotzdem noch auf der Tagesordnung, wie Verfassungssprecher Patrick Gasselich kritisiert.

Wenig Wähler zu holen

Dass sich gerade die Wiener Stadtregierung für eine liberalere Praxis bei der Einbürgerung auf gesetzlicher Ebene ausspreche, "entbehrt nicht einer gewissen Ironie", sagt Wölbitsch, immerhin sei dieser "Linksblock" für diese Missstände beim Vollzug des Gesetzes verantwortlich. Als eines der Motive für den geforderten erleichterten Zugang vonseiten SPÖ und Neos sieht er die Wählerakquise. Wie symbolische Erhebungen, etwa die "Pass-egal-Wahl" von SOS Mitmensch, zeigten, würde die SPÖ nämlich bei jenen ohne österreichische Staatsbürgerschaft – und Wahlrecht – am besten abschneiden.

Im Vergleich hätte die ÖVP schlechte Karten. Auf die STANDARD-Nachfrage, ob das auch ein Motiv sei, dass sich die Volkspartei so vehement gegen Reformen ausspricht, antwortet Wölbitsch: "Es geht für uns um mehr als Wählerstimmen."

Die SPÖ wolle, dass die Staatsbürgerschaft "billiger, schneller, anspruchsloser und aus unserer Sicht wertloser wird", so der Klubobmann. Dass in Österreich geborene Kinder oft an den finanziellen Hürden der Einbürgerung scheitern – deren Eltern müssen 1.600 Euro netto abzüglich Miete und Kredite zur Verfügung haben –, perlt an Wölbitsch ab. "Die Grenze ist relativ erträglich", außerdem gehe es um die "Selbsterhaltungsfähigkeit", die sichergestellt sein müsse. Allerdings: Diese wäre bei vielen Österreicherinnen und Österreichern mit Blick auf ihre Einkommenssituation auch nicht gegeben.

"Bunt gemischte" 30 Prozent der Wiener

Als "unseriös" betrachtet ÖVP-Integrationssprecherin Caroline Hungerländer die Kritik am Wahlausschluss von 30 Prozent der Wiener Bevölkerung, die nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Denn: In dieser Gruppe seien alle Aufenthaltstitel und Aufenthaltsdauern vertreten. "Der Asylberechtigte, der eben in Wien eingetroffen ist, der Student im ersten Semester und die ausländische Diplomatin", verweist Hungerländer auf eine Anfragebeantwortung von Stadtrat Wiederkehr (Neos).

Auch eine Studie der Stadt Wien habe gezeigt, dass das größte Interesse an Einbürgerung bei Drittstaatsangehörigen, darunter asylberechtigte Personen, vorhanden sei. Als Grund wurde meist Flucht vor Verfolgung und Krieg genannt – auch unter Personen aus der Türkei oder dem ehemaligen Jugoslawien ist das Interesse hoch. "Das Wahlrecht ist daher kein Hauptgrund für die Beantragung der Staatsbürgerschaft", sagt Hungerländer und warnt in einem Atemzug vor dem "Pull-Faktor", den eine Erleichterung nach sich ziehen könnte. Laut Expertinnen und Experten kein haltbares Argument: Auch in anderen Ländern mit leichterer Einbürgerungspraxis sei der Pull-Faktor Studien zufolge nicht gegeben.

Baustelle MA 35

Dass folglich die Wiener ÖVP nicht von ihrer Linie abrückt, will diese am Dienstag in einem von ihr initiierten Sonderlandtag noch einmal kundtun. "Bevor man in Wien über das Staatsbürgerschaftsrecht redet, sollte man stattdessen dafür sorgen, dass die zuständige Behörde – die MA 35 – richtig arbeitet, sagt dazu Verfassungssprecher Gasselich. Er verweist dabei auf die unlängst veröffentlichten Zahlen der Volksanwaltschaft, wonach allein auf die Wiener Behörde 70 Prozent aller Beschwerden im österreichweiten Behördenwesen entfallen. "Das ist der letzte Beweis für das momentan bestehende Chaos beim Wiener Einwanderungsamt."

Gasselich appelliert daher an den Bürgermeister, die MA 35 zur Chefsache zu erklären: Bürgermeister Ludwig müsse von seinem Durchgriffsrecht Gebrauch machen und Stadtrat Wiederkehr die richtigen Schritte setzen, "seine Schonzeit läuft bald ab". Außerdem fordert Gasselich eine erneute Personalaufstockung, um Verfahrensdauern zu verkürzen. Wenn es zu keinen Verfahrensfortschritten kommt, "braucht es eine verpflichtende Begründung der Behörde". (Elisa Tomaselli, 20.6.2022)