Kein Teil der Ukraine ist tatsächlich sicher – eine Frau steht in ihrem zerstörten Haus in der nordukrainischen Stadt Tschernihiw.

Foto: AP / Natacha Pisarenko

Heinz Wegerer war drei Monate in der Ukraine.

Foto: MSF

Millionen Tonnen blockierten Weizens könnten in nicht allzu ferner Zukunft die Häfen der Ukraine verlassen. Davon geht EU-Außenbeauftragter Josep Borrell beim Außenministertreffen in Luxemburg am Montag aus. "Wir kommen voran", sagte der Chefdiplomat in Bezug auf eine Vereinbarung: "Ich bin mir sicher, dass die Vereinten Nationen am Ende eine Einigung erzielen werden." Sollte die Exportblockade doch länger andauern, wäre allein Russland dafür verantwortlich, was ein "echtes Kriegsverbrechen" sei, sagte Borrell. Denn niemand dürfe den Hunger der Menschen als Kriegswaffe missbrauchen. Das blockierte Getreide befeuert die Nahrungsmittelkrise im Nahen Osten und der Sahelzone.

In Luxemburg berieten sich die EU-Außenminister auch zum möglichen Kandidatenstatus der Ukraine und Moldaus. Eine tatsächliche Entscheidung wird aber erst beim EU-Gipfel Ende der Woche erwartet.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rechnet wegen dieser Beratungen mit mehr Aggression der russischen Streitkräfte – nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. In der Videoansprache in der Nacht auf Montag stellte er aber klar: "Wir sind bereit." Um den Bedarf an erneuten und verstärkten Waffenlieferungen in die Ukraine zu verdeutlichen, rechnete der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba im Gespräch mit der ARD aber vor, dass die Ukraine den russischen Truppen im Verhältnis 1:15 unterlegen sei, wenn es um Artilleriewaffen gehe.

Umkämpfter Osten

Die ukrainischen Streitkräfte gaben am Montag im Kampf um den Donbass bekannt, dass sie den Ort Metjolkine an die russische Armee verloren hätten. Dieser liegt südöstlich der Stadt Sjewjerodonezk im Osten der Ukraine, die Russland ebenfalls als besetzt bezeichnet. Die verbliebenen ukrainischen Militärangehörigen verschanzen sich vor allem im Chemiewerk Asot, das von den russischen Truppen abgeriegelt wird, um den Nachschub zu unterbinden. Bei einem Angriff auf die Gasförderplattformen der seit 2014 annektierten Krim-Halbinsel sollen ukrainische Raketen mehrere Menschen verletzt haben. Das schrieb der prorussische Regierungschef der Krim auf Telegram. Auch ein ukrainischer Parlamentsabgeordneter berichtete von dem Angriff.

Schwindende Hoffnung

Seit mehr als vier Monaten tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine, der mehr als 13 Millionen Menschen zur Flucht gezwungen hat. Rund fünf Millionen sind über die Grenzen geflohen, während etwa acht Millionen innerhalb des Landes vertrieben sind. Vor allem jene, die sich noch in der Ukraine befinden, verlieren immer mehr die Hoffnung, erzählt Heinz Wegerer, der jüngst von seinem Einsatz für Ärzte ohne Grenzen zurückgekehrt ist. Denn es gebe "keinen Ort mehr, der wirklich sicher ist", berichtet der Logistiker bei einer Pressekonferenz der Organisation.

Auch im Westen würde mehrmals täglich Luftalarm ausgelöst, der die Ukrainer nicht zur Ruhe kommen lässt: "Die psychische Verfassung der Menschen ist schwierig", erzählt Wegerer. Mit Trainings und Gesprächsangeboten will die Hilfsorganisation auch die psychologischen Ersthelfer in den Flüchtlingsunterkünften entlasten.

Evakuierungen per Zug

Im Gegensatz zu anderen Einsätzen hat die Ukraine gut ausgebildete Ärztinnen, Pfleger und ein funktionierendes Gesundheitssystem. "Sonst stampfen wir oft Spitäler aus dem Boden", sagt Wegerer: "In der Ukraine mussten wir genau zuhören, wo unsere Expertise gebraucht wird."

So etwa bei der Triage-Einrichtung, Schulungen für Kriegschirurgie und der Beschaffung medizinischer Materialien, sagt MSF-Österreich-Geschäftsführerin Laura Leyser: "Evakuierungen aus Spitälern an der Front ist auch eine große Aufgabe." Damit die Krankenhäuser entlastet werden, konnten mit der ukrainischen Bahn zwei Züge umgebaut werden, um die Patienten in einen anderen – zumindest etwas sichereren – Landesteil zu verlegen. (Bianca Blei, 20.6.2022)