Seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs vor vier Monaten fordern Wirtschaftsspitzen und Fachleute von der Bundesregierung einen Fahrplan, um Österreichs fatale Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern. Und seit vier Monaten erhalten sie von der dafür zuständigen Ministerin Leonore Gewessler keine befriedigende Antwort.

Dafür gibt es einen naheliegenden Grund: Österreich verfügt über keine Alternativen zum Gas aus Wladimir Putins Händen, zumindest nicht kurz- oder mittelfristig. Ohne einen gesamteuropäischen Plan müsste sich das Land in einen Bieterwettbewerb um frei verfügbares Flüssiggas stürzen, was die ohnehin schon hohen Energiepreise weiter hinauftreiben würde. Ein Binnenland ist hier automatisch im Nachteil.

Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie, Leonore Gewessler.
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Der Ausbau von Windkraft und Sonnenenergie dauert Jahre und wird außerdem von unzähligen Sonderinteressen behindert. Auch Klimaschutz- und Energieeffizienzgesetz müssen warten, weil sich die verschiedenen politischen Akteure nicht einigen können. Das ist zwar ärgerlich, aber auch die Folge einer pluralistischen Demokratie.

Nun, da der Gasfluss aus Russland tatsächlich stockt, wurde eine Alternative gefunden: die Kohle, für die das stillgelegte Kraftwerk Mellach wieder zum Leben erweckt werden soll. Zwar ist Kohle ganz besonders klimaschädlich, und ein kleines Kraftwerk löst nicht das Gasdilemma, in das eine jahrzehntelange falsche Politik das Land hineingeführt hat. Dennoch ist der Schritt vernünftig und die Kritik der Umweltorganisationen überzogen. Bevor im kommenden Winter in den Häusern Heizung und Licht ausgehen, ist jede Energiequelle besser als keine. Auch Robert Habeck, Gewesslers deutscher Ministerkollege und Parteifreund, setzt auf Kohle als kurzzeitigen Gasersatz.

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Spaßverderber

Was Gewessler allerdings verabsäumt, ist das, was Habeck seit vielen Wochen mit Leidenschaft tut: die eigene Bevölkerung zum Energiesparen aufzurufen, um sie so von russischem Gas zu entwöhnen. Österreichs Grüne scheinen hier eine bewusste Entscheidung getroffen zu haben, ihre Klimapolitik nur mit Wohlgefühl zu vermarkten, um ja nicht in den Geruch des Spaßverderbers zu kommen. Dazu gehören Klimaticket und Klimabonus, selbst kleine Sparmaßnahmen aber nicht. Dabei ginge das mit geringen Schmerzen: Zwischen zehn und 20 Prozent lassen sich in fast jedem System problemlos einsparen.

Gewessler könnte selbst das Tempolimit auf den Autobahnen herabsetzen; jeder Haushalt könnte sich auf etwas weniger Heizleistung im Winter einstellen; und jeder Industriebetrieb hat Optionen, um die Produktion etwas energieeffizienter zu gestalten. Ein Wettbewerb der besten Ideen könnte unzählige praktische Lösungen hervorbringen. Im Nu würde das Land die Gasimporte selbst einschränken oder mit weniger Angst Putins energiepolitischer Erpressungstaktik entgegensehen.

Die grüne Schönwetterpolitik mag helfen, den Frieden in der Koalition zu erhalten, aber sie ist nutzlos gegen große geopolitische Stürme. Man sollte die eigene Bevölkerung nicht unterschätzen: Die meisten verstehen den Ernst der Lage und können die Wahrheit ertragen. Sie würden auf eine "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede mit Verständnis reagieren.

Und wenn sich schon in dieser Krise niemand traut, den Menschen etwas abzuverlangen, wie soll Österreich dann je die große Klimawende schaffen? (Eric Frey, 20.6.2022)