Am Beginn des "Elvis"-Films werden wir Zeuge einer Kulturrevolution. Rock ’n’ Roll transformiert vom schwarzen Rhythm ’n’ Blues zum globalen Befreiungsschlag der Jugend.

Foto: Warner

Der offizielle Start der sexuellen Revolution musste zwar noch ein paar Jahre warten. Immerhin war die "Antibabypille" bis mindestens Ende der 1960er-Jahre umstritten und Verhütung noch bis heute großteils Frauensache. Eines zeichnet jetzt im Kino das Biopic Elvis des australischen Regisseurs Baz Luhrmann in seiner ersten von zweieinhalb Stunden Sesselwetzen aber sehr eindrücklich nach: In der Nachfolge Frank Sinatras aus den 1940er-Jahren, der in den USA für ein erstes Teenagerkreischen in den Konzertsälen sorgte, war der aus Memphis, Tennessee, kommende Lastwagenfahrer Elvis Presley der entscheidende Brandbeschleuniger. Elvis sorgte mit seinen frühen Singles und dem legendären Hüftschwung für jugendliche Ekstase und einen Befreiungsschlag gegenüber den Zwängen der Erwachsenenwelt. Nennen wir es Kulturrevolution.

Exzellenter Darsteller

Luhrmann inszeniert das Stationendrama des erfolgreichsten Sängers aller Zeiten nicht bloß als mittelbegabte Mimikry von Schauspielern, die sich mit Südstaatenakzent durchs Drehbuch nuscheln und Elvis im Vollplayback nachstellen. Mit seinem exzellenten Hauptdarsteller Austin Butler hat er einen Mann an Land gezogen, der die Lieder sehr glaubhaft selbst singt und selbst noch als Spargeltarzan den Elvis der späten Jahre geben kann, ohne sich in einen Fatsuit zu quetschen.

Die Aneignung eines dicken Körpers ist dieses Mal Tom Hanks vorbehalten. Der gibt zum Faust Austin Butlers den Mephisto: Er ist Elvis' berüchtigter Manager Col. Tom Parker, der auch als Erzähler durch den Film führt. Der staatenlose Mann blickte vor Elvis auf eine Karriere als Hutschenschleuderer auf Jahrmärkten zurück und managte nebenher brave Country-Acts. Allerdings entdeckte er bald den jungen wilden Elvis Presley. Elvis, der "white man with black hips", verstand es, weißen Jammerlappen-Country mit der religiösen Ekstase der Erweckungskirchen und dem sexuell aufgeladenen schwarzen Rhythm ’n’ Blues zu fusionieren. Aus dem Jesus der Kirchen wurde das böse Baby Rock ’n’ Roll.

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Luhrmann zieht für die musikalische Geburtsstunde von Elvis alle Register, schließt in schnellen Schnitten Wanderprediger in Zelten mit Bluesmusikern in schäbigen Juke-Joints kurz und unterlegt den Hit That’s Alright Mama mit Hip-Hop-Beats. Die Beine des Sängers beginnen zu zucken. Jungen Frauen im Publikum kann man im Close-up bei ihrer Entfesselung zusehen. Col. Tom Parker zählt am Bühnenrand die imaginären Geldscheine.

Der große Rock-’n’-Roll-Schwindel kann beginnen. Immerhin hat die Unterhaltungsindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg die Teenager als gut mit Taschengeld ausgestattete Einnahmequelle entdeckt. Parker muss nur die Familie Presley ein wenig über den Tisch ziehen und dafür sorgen, dass aus der sittlichen Enthemmung eine familientauglichere Form der Unterhaltung entsteht. Elvis muss zur Army, danach zeichnet das Duo Parker/Presley gut ein Jahrzehnt lang für einige der schlimmsten Filme verantwortlich, die je in Hollywood produziert wurden, aber Elvis zum Superstar machten.

Kunst der Überwältigung

Im Gegensatz zum gelungenen Elton-John-Musical Rocketman und der schiefgegangenen Bohemian Rhapsody über Freddie Mercury setzt Luhrmann nicht auf musikalische Einlagen. Seine Kunst ist eine der Überwältigung. Die Musik böllert die ganze Zeit. Auch optisch geht Luhrmann in der Tradition seiner Arbeiten Moulin Rouge oder Der große Gatsby in die Vollen. Kaum eine quietschbunte Geschmacklosigkeit im Lebensstil von Elvis wird ausgelassen. Stützkorsett- und Strampelanzughersteller waren bestens beschäftigt.

Zwar bekommt Tom Hanks seine seltene Rolle als böse Krämerseele wirklich gut hin, allerdings leidet die Darstellung der toxischen Beziehung von Elvis und dem Colonel am Drehbuch. Die Charaktere in dieser vor allem ab der Hälfte dank Gefühlsschmafu ermüdenden Passionsgeschichte bleiben flach wie der Tümpel, neben dem Klein-Elvis in einer afroamerikanischen Hood aufwächst.

Tempo entsteht durch brausende Kamerafahrten und Schnitte, Schnitte, Schnitte. Am Ende hat der böse Manager seine Melkkuh für Millionen von Dollar und einen Kübel Tabletten pro Tag nach Las Vegas verkauft. 1977 stirbt Elvis mit 42 Jahren an gebrochenem Herzen. Zwischen Hüftschwung und Hüftgold sind nur etwas mehr als 20 Jahre gelegen. (Christian Schachinger, 21.6.2022)