Von der Schrittmacherin zur Getriebenen: Der Aufwind für Leonore Gewessler verebbte mit der Energiekrise.

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Die Neue hatte von Beginn an einen Lauf. Obwohl nicht gerade mit dem Wesen der Volkstribunin gesegnet, avancierte Leonore Gewessler rasch zur Schlüssel-Ministerin abseits von Corona. Vom üppigen Klimaschutzbudget bis zur CO2-Bepreisung, vom Plastikflaschenpfand bis zum Stopp des Lobau-Tunnels: Was die Grünen an Erfolgen für eine spätere Wahlkampagne verbuchen können, stammt zum Großteil aus der Bilanz der Umwelt- und Mobilitätsministerin. An Gegnern mangelte es zwar ebenso wenig, doch das ist für eine Politikerin mit ihrer Agenda eine regelrechte Auszeichnung. "Schlag auf Schlag" gehe es unter der Verantwortung der Ex-Öko-Aktivistin, befand Profil Mitte Februar: "Da will offenbar jemand wirklich Klimapolitik machen."

Elf Tage später überfiel Russland die Ukraine – und stellte Gewesslers Ordnung auf den Kopf. Statt Schrittmacherin ist die 44-Jährige nun Getriebene: Seit die Energiepreise in den Himmel schossen und die Gaszufuhr aus Wladimir Putins Reich abzubrechen droht, hat der Kampf um die Versorgung hehre Umweltziele verdrängt. Das zwingt zu unangenehmen Verrenkungen. Gewessler musste nicht nur das Prestigeprojekt der CO2-Bepreisung aufschieben, sondern etwas tun, dass sie vor ein paar Monaten wohl noch als Wahnwitz abgetan hätte: Aus der Not heraus lässt sie das vor zwei Jahren stillgelegte letzte heimische Kohlekraft in Mellach bei Graz auf ein Wiederhochfahren vorbereiten.

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Vorwürfe von vielen Seiten

Die ungewohnte Rolle bietet neue Angriffsflächen. Gewesslers ehemaliger Arbeitgeber, die Umweltorganisation Global 2000, deponiert Unbehagen über das Kohle-Comeback und fordert mehr Tempo bei der Energiewende. Die Oppositionsparteien SPÖ und Neos sehen einen "Verzweiflungsakt" und "Showpolitik", die FPÖ fragt: "Reaktivieren wir als nächstes Zwentendorf?"

Schon seit Wochen setzt es Vorwürfe wegen des Managements der Energiekrise. Anfang Mai warf Harald Mahrer, Präsident der in der ÖVP einflussreichen Wirtschaftskammer, Gewessler schwere Versäumnisse vor. Das Ministerium biete keine konkreten Szenarien, wie die knappen Gasreserven nach einem Lieferstopp verteilt werden sollen, kritisierte der langjährige ÖVP-Politiker. Die Unternehmervertreter tappten ebenso wie die anderen Sozialpartner von der Arbeiterkammer und dem ÖGB im Dunkeln.

Seither reißt die Kritik nicht ab. Während sich die Unternehmen seit Monaten intensiv vorbereiteten, urteilten die Vertreter der chemischen Industrie erst am Freitag, es gebe vonseiten der Politik "noch immer keine konkreten Pläne" für den Ernstfall. Es brauche klare Kriterien, nach denen die Versorgung im Ernstfall eingeschränkt werde.

Hat das etwas für sich? Oder nützen da Gegner die Gelegenheit, um eine unliebsame Ministerin in ein schiefes Licht zu rücken?

Vor einigen Wochen hegte auch Jürgen Janger große Zweifel. Mitte Mai noch habe er Signale vermisst, dass Gewesslers Ministerium den Ernst der Lage erkannt habe, sagt der Experte vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo), das in die Beratungen eingebunden ist. Seither habe sich aber einiges geändert. Mittlerweile seien offenbar angemessene Vorbereitungen angelaufen, bei denen verschiedene Konzepte diskutiert werden: "Dass die Pläne bereits fix und fertig sind, wäre angesichts der Komplexität zu viel verlangt." Noch stehe der Herbst, der den Energieverbrauch nach oben treibt, ja noch nicht vor der Tür.

Was im Ernstfall passieren soll

Von einer ständigen Weiterentwickelung der Pläne ist im Ministerium selbst die Rede: Es gehe längst nicht mehr um eine lineare Energiekürzung für alle Unternehmen, sondern um ein System mit vielen Elementen – etwa der Möglichkeit für Unternehmen, untereinander mit Gas zu handeln.

Warum die Notfallkonzepte nicht offengelegt werden? Börsennotierte Unternehmen müssten mit Kursstürzen rechnen, wenn drohende Gaskürzungen publik werden, begründet Gewessler die Vorgehensweise. Unausgesprochenes Argument: Nach Veröffentlichung einer Liste, wann welches Unternehmen Einschränkungen zu erwarten habe, würde die Ministerin wohl auch von Lobbyisten gedrängt werden, Umreihungen vorzunehmen.

Auf der sozialdemokratisch dominierten Arbeitnehmerseite der Sozialpartnerschaft, die Mahrer bei seiner Kritik vereinnahmt hat, herrscht für Gewesslers Vorgangsweise Verständnis. Es gebe viel zu viele mögliche Szenarien, um diese – wie von den Wirtschaftsvertretern gefordert – in Planspielen festschreiben zu können, erläutert Maria Kubitschek, Vizedirektorin der Arbeiterkammer: Putin könne den Gashahn langsam oder schnell, teilweise oder ganz, im Sommer oder im Winter abdrehen – und so weiter.

Das bedeutet nicht, dass Kubitschek nichts auszusetzen hat. Das Ministerium biete der Bevölkerung keine konkrete Handelsanleitung, wie Energie gespart werden könnte, kritisiert sie, "da passiert gar nichts". Was aber den Verteilungsplan für den Fall eines Gasstopps betrifft, fällt ihr Urteil weit positiver aus, als von Mahrer suggeriert: "Wir wissen, dass sich das Ministerium intensiv vorbereitet und fühlen uns gut eingebunden."

Konflikt mit Vorgeschichte

Der Clinch zwischen Gewessler und der Wirtschaft hat eine lange Vorgeschichte. Höhere Preise für Energie, gecancelte Straßenprojekte und mehr Regulierung fassen traditionelle Unternehmervertreter als Zumutung auf – was auch für weite Teile der ÖVP gilt. Doch heißt das, dass die Kanzlerpartei insgeheim systematisch gegen die Frontfrau des Regierungspartners arbeitet? Wer in die Koalition hineinhört, gewinnt nicht unbedingt diesen Eindruck – trotz einiger Vorbehalte.

Beim Wirtschaftsflügel gebe es eine "hohe Grundaggressivität" gegenüber Gewessler, sagt einer aus dem türkisen Regierungsumfeld. Abgesehen von den logischen Interessenkonflikten liege das an der Tendenz der Ministerin, andere Anliegen mit Ignoranz zu strafen: "Sie ist manchmal so vom eigenen Thema getrieben, als gäbe es nur dieses eine."

Bei anderen Gelegenheiten zeige sie sich aber auch wieder erstaunlich pragmatisch – von der Kohleentscheidung bis zur Reise nach Katar, um sich um Flüssigerdgaslieferungen zu bemühen. Und persönlich sei der Draht zu Kanzler Karl Nehammer intakt, wie der "kleine Krisengipfel" am Sonntag bewiesen habe.

Vonseiten des Juniorpartners ist Ähnliches zu hören. Eine gezielte Kampagne gegen Gewessler sei nicht wahrzunehmen, so ein Grüner, dagegen spreche schon allein ein Umstand: Die eine geschlossene ÖVP, die so etwas wie unter Kurz orchestrieren könnte, "gibt es derzeit nicht". (Gerald John, 20.6.2022)