Nicht alle, die könnten, wollen auch einen österreichischen Pass.

APA/HANS KLAUS TECHT

Die Diskussion um die Staatsbürgerschaft nimmt derzeit aus zweierlei Gründen wieder an Fahrt auf. Zum einen bleibt vielen Menschen der österreichische Pass wegen hoher Hürden verwehrt. Nicht selten sind davon auch Kinder betroffen, die zwar hierzulande geboren sind, deren Eltern aber zu wenig Geld zum Leben übrigbleibt. Zum anderen wird das Demokratiedefizit in Österreich immer größer. Ein Drittel aller Wienerinnen und Wiener beispielsweise kann aufgrund fremder Staatsbürgerschaft weder an Wahlen noch an Volksabstimmungen teilnehmen. In knapp zwei Jahrzehnten hat sich dieser Wert in Wien fast verdoppelt.

Wer gerne die Staatsbürgerschaft haben würde.
Grafik: Der Standard

Wunsch biografieabhängig

Wie sich zeigt, geht es in dieser Diskussion aber nicht nur um Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen keine österreichische Staatsbürgerschaft bekommen. Der Wunsch danach ist je nach Migrationsbiografie auch unterschiedlich stark ausgeprägt. Das geht aus einer Studie der Stadt Wien aus dem vergangenen Jahr hervor. Demnach sind es vor allem Menschen aus Drittstaaten, die einen österreichischen Pass anstreben. Als Gründe dafür wurden auch häufig Flucht vor Verfolgung und Krieg genannt.

In etwa gleich hoch liegt das Interesse an der Staatsbürgerschaft bei Befragten aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien – nämlich bei rund 50 Prozent.

Erwartbar niedrig ist dieser Wert unter Unionsbürgern. Das hat auch damit zu tun, dass diese im Vergleich zu Drittstaatsangehörigen keine Nachteile im Bezug auf Freizügigkeit, Gleichbehandlung und Aufenthaltssicherheit haben. Der STANDARD hat mit vier Personen darüber gesprochen, warum sie die österreichische Staatsbürgerschaft nicht anstreben oder diese wegen einer anderen aberkannt wurde.

Keinen Erfolg brachte hingegen die Recherche über illegale österreichisch-türkische Doppelstaatsbürger. Sowohl von Anwälten als auch aus der türkischen Community ist zu hören, dass Betroffene nicht mit Medien sprechen wollen.

Valentin Menedetter: Plötzlich ganzer Brite – und kein Österreicher mehr

Valentin Menedetter ist halber Brite. Der Staatsbürgerschaft nach sogar ganzer. Denn vor einigen Monaten hat der 37-Jährige von der Wiener Staatsbürgerschaftsbehörde MA 35 einen Brief bekommen, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass er seit 36 Jahren kein österreichischer Staatsbürger mehr ist. Das kam so: Menedetters Vater ist Österreicher, die Mutter Britin. Als Menedetter in Wien zur Welt kam, registrierte ihn seine Mutter im britischen Konsulat. Er erhielt ein "Certificate of Registration" und so die britische Staatsbürgerschaft.

Die MA 35 teilte ihm mit, dass er den österreichischen Pass 1986 damit verloren habe und sich zwecks Aufenthaltstitel an die Einwanderungsbehörden wenden solle. Gerade durch den Brexit hat die Aberkennung schwere Folgen für Valentin – mit der britischen Staatsbürgerschaft allein ist er kein Unionsbürger mehr. Valentin schaltete einen britischen Anwalt ein. Laut dessen Gutachten käme die Registrierung durch die Mutter keinem Antrag auf die britische Staatsbürgerschaft gleich. Das ignorierte die MA 35. Valentin legte Beschwerde beim Verwaltungsgericht ein. Die Verhandlung findet Ende Juni statt.

Kenan Güngör: Kein Interesse an einer so "ausladenden" Einladung

Kenan Güngör will die österreichische Staatsbürgerschaft nicht. Der bürokratische Aufwand sei zu langwierig, der Benefit zu gering. "Außer dem Wahlrecht gibt sie nicht viel her", sagt er. Güngör tauschte vor vielen Jahren seinen türkischen Pass gegen den deutschen. Er lebte lange in Köln, später in der Schweiz. 2007 kam der 53-jährige Soziologe mit seiner Familie nach Wien. Selbst wenn die Rückkehr nach Deutschland kein Thema ist, sieht er keinen Anlass für einen Passwechsel.

Grundsätzlich hält Güngör es für längst nicht mehr zeitgemäß, das Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft zu knüpfen. "Wir leben in einer mobileren Welt", sagt er. "Deshalb würde eine Wohnbürgerschaft in der EU Sinn machen, wonach alle, die längere Zeit in einem anderen Staat leben, auch politisch mitentscheiden dürfen."

Davon abgesehen sei das Prozedere auch unfreundlich und teuer, wirft Güngör ein: "Mich betrifft das finanziell nicht so sehr, aber vor allem für mehrköpfige Familien, die sich schon den Alltag nicht so gut leisten können, kann das zu einer unüberwindbaren Hürde werden." Eine so "ausladende Einladung", wie Güngör es nennt, wolle er einfach nicht annehmen.

Irene S.: Die Liebe zu Schweden war einfach immer zu groß

Nach Österreich kam die Schwedin Irene S. im Jahr 1968. "Gezwungenermaßen", wie sie erzählt. Ihre Mutter heiratete einen Österreicher, und der Lebensmittelpunkt wurde schnell nach Wien verlegt. Einige Jahre später heiratete S. auch selbst einen Österreicher. Dadurch hätte die heute 70-Jährige eigentlich hierzulande die Staatsbürgerschaft bekommen können. Aber S. winkte ab.

"Dafür hätte ich meinen schwedischen Pass hergeben müssen – das wollte ich nicht", sagt S. "Das ist mein letzter Draht nach Schweden, der ist mir ganz wichtig." Dabei gehe es nicht nur um Symbolik, "ich habe einfach Schweden im Herzen, ich liebe dieses Land". Würde ihre Familie nicht in Wien leben, wäre S. wohl schon längst wieder in ihre Heimat gezogen. So besucht sie alle paar Jahre ihre schwedischen Freunde. "Wien ist eine wunderbare Stadt, aber das Meer fehlt mir schon sehr", sagt S.

Die Schwedin erfahre auch keine Nachteile ohne österreichische Staatsbürgerschaft. Nur dass sie nicht wählen kann, darüber ärgert sich S. Ihre Kinder sind übrigens österreichisch-schwedische Doppelstaatsbürger. Das sei zwar aufwendig gewesen, "aber das habe ich geschafft".

Jakob N.: Es fehlt das Gefühl, hier willkommen zu sein

Jakob N. ist Deutscher, sein Mann Österreicher. Anfangs lebten beide in Deutschland. Als N. sein Studium abschloss, überlegten die beiden, wohin sie ziehen wollen. N. hatte noch keinen Job, es konnte daher frei entschieden werden. "Also haben wir die schönste Stadt gewählt und sind nach Wien gezogen", erzählt N. Er lebt seit acht Jahren hier und arbeitet für ein deutsches Unternehmen. Aber er fühlt sich nicht wirklich als Österreicher. "Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ich noch nicht so lange hier wohne – aber wohl auch mit den politischen Verhältnissen", sagt der 33-Jährige. "Hier wird sehr stark rechts gewählt, das ist mir nicht sympathisch."

N. könnte 2024 die Staatsbürgerschaft beantragen, will aber seine deutsche nicht verlieren. Daher wird es wohl zu keinem Passwechsel kommen – auch weil N. nicht das Gefühl hat, in Österreich willkommen zu sein: Wer die Staatsbürgerschaft haben wolle, dem würden viele Steine in den Weg gelegt. "Österreich könnte froh sein, dass ich hier bin, ich leiste genug", sagt er. "Eigentlich müsste sich Österreich mehr um mich bemühen als umgekehrt. Aber wenn sie mich nicht haben wollen, bleib ich halt Deutscher." (Sebastian Fellner, Jan Michael Marchart, Martin Tschiderer, 27.6.2022)