Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier. Aber um zu erleben und zu spüren, wie fest wir in Routinen verhaftet sind, braucht es weniger große Umwälzungen als kleine Veränderungen: ein Schalter, der statt auf Tippen auf Schieben reagiert. Eine veränderte Typo. Neue Lampen im Lieblingslokal. Oder einen Laufevent, der nicht in der Früh, sondern am Abend beginnt.

Glauben Sie mir: Auch wenn Sie gewohnt sind, Trainings- oder Sonst-was-Läufe abends abzuspulen: Ein Wettkampf, bei dem um exakt 19.08 Uhr gestartet wird, ist was anderes. Obwohl Laufen immer Laufen ist. Egal wann. Nur: Das ist es eben doch nicht. Aber um das nicht bloß zu verstehen, sondern auch zu spüren, müssen Sie wohl kommendes Jahr tun, was ich vergangenen Samstag tat: beim Traunsee-Halbmarathon in den Sonnenuntergang laufen.

Foto: Tom Rottenberg

Sie werden sich zuerst wundern. Wundern, dass das mit dem "Sich-anders-Anfühlen" tatsächlich stimmt. Schon am Weg zu Start. Auf 1.001 Arten und aus auf den ersten Blick absolut banalen Gründen.

Dann werden Sie in Ebensee losrennen. Um Punkt 19.08 Uhr. Und wenn alles gutgeht, werden sie 21,1 Kilometer später mit einem zufriedenen Grinsen vor dem Rathaus in Gmunden stehen und mir nicht nur zustimmen, sondern – wichtiger – das Gleiche denken wie ich: "Der Traunsee-Halbmarathon ist ein Traum." Egal ob als "Sun-Finisherin" oder "Moon-Shiner" (oder umgekehrt).

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Sun-Finisher? Moon-Shinerin? Hä? Okay, also der Reihe nach.

Die Geschichte beginnt nämlich anderswo. Auf einer Autofahrt im Winter 2017/18. Im Wagen sitzen die beiden in der Laufwelt eher nicht unbekannten Herren Andreas Berger und Christian Pflügl – und plaudern. Worüber?

Darüber, ob und wie man am Traunsee einen schönen Laufevent inszenieren könnte. Einen, der aber nicht einfach nur ein weiterer regionaler 21er mit "Begleitmusik" ist.

Foto: Tom Rottenberg

Weil (Spitzen-)Sportler aber gewohnt sind, das, was andere zwischen "Problem" und "Geht sicher nicht" ansiedeln, als Herausforderung zu betrachten, erklärten der Sprinter und der Langdistanzler das unvermeidliche politisch-amtlich-behördliche "Seids ang'rennt? Am hellichten Tag die Straße von Gmunden nach Ebensee sperren?" zur Möglichkeit: "Okay, Abend passt auch, Danke!"

Und gemeinsam mit dem Laufevent-Profi Axel Bammer wurde daraus ein so schönes wie stimmiges, fast romantisches Konzept gezimmert: Am längsten Samstagabend des Jahres läuft man am Traunsee "in den Sonnenuntergang". Exakt zwei Stunden bevor die Sonne abtaucht, geht es los. Wer "Sub2" schafft, das Ziel also in weniger als zwei Stunden erreicht, heißt "Sun-Finisher". Wer gemütlicher läuft und länger genießt, "Moon-Shiner".

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Der Vogel flog. Nach dem ersten Mal, 2018, war klar, dass die "Aber wo sollen denn die Autos fahren?"-Frage zumindest an diesem einen Samstagabend nicht mehr zog: Das Feedback von Publikum und Presse, die Bilder einer ur-österreichischen Herzlandschaft, die plötzlich von fröhlichen Menschen statt von Autos beherrscht wurde, überzeugte.

2019 war der Traunsee-Halbmarathon schon kein geheimer Geheimtipp mehr – und wer da nicht konnte (ich zum Beispiel), trug sich den "Lauf in den Sonnenuntergang" für 2020 fett im Kalender ein.

Nur war dann halt Corona.

Foto: Tom Rottenberg

2021 konnte der Lauf dann wieder stattfinden. Allerdings wurde er – C-Auflagen-bedingt – in den Juli verschoben: Landschaft, See und Bergkulisse ringsum sind da natürlich genauso schön. 21,1 Kilometer genauso lang. Aber der Rahmen passte nicht ganz: Das Narrativ vom Lauf in den spätesten Sonnenuntergang (so viel Pragmatismus, ein Wochenende zu wählen, gestehen Nicht-Locals einem Veranstalter zu) funktionierte da nicht zu 100 Prozent.

Außerdem, schmunzelt Bammer, waren Mitte Juli etliche, die ihren 2020er-Start auf 2021 verschoben hatten, auf Urlaub (schändlicherweise nicht im Salzkammergut!) oder unabkömmlich: Die Startplätze wurden also noch einmal umgeschrieben.

Foto: Tom Rottenberg

Wieso das wichtig ist? Ist es eigentlich eh nicht. Außer Sie gehören zu jenen Menschen, die Finisherlisten mit vorab kommunizierten Zahlen an Teilnehmern und Teilnehmerinnen vergleichen: Dass bei einem Bewerb, bei dem es außer einem (den internationalen AIMS-Wettkampfnormen entsprechenden) Halbmarathon auch einen "Genusslauf" (11,5 km) sowie einen "Sun-" und einen "Junior-Run" (je 4 km) gibt, von insgesamt 1.467 Angemeldeten etwa 1.100 den Halbmarathon laufen wollen, ist nämlich durchaus ungewöhnlich.

Noch ungewöhnlicher ist es aber, wenn in der Ergebnisliste des Hauptlaufes nur 736 Finisher (481 Männer und 255 Frauen) aufscheinen: Obwohl es beim Start in Ebensee 31 Grad hatte, wäre das eine verheerend hohe Ausfallquote.

Foto: Tom Rottenberg

Tatsächlich kam aber gerade einmal ein Dutzend der Gestarteten nicht ins Ziel. Das ist ein gutes Zeugnis. Für Vernunft, Augenmaß, Vorbereitung und Selbsteinschätzung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Hitzelaufes. Aber vor allem für die Veranstalter: Dass es entlang der Strecke neben den "regulären" Versorgungsstellen immer wieder Wasser und einige Male auch Gartenduschen gab, war kein Zufall, sondern Last-Minute-Maßnahmen angesichts des Wetterberichts geschuldet. Dass die Anrainer nicht nur zehn Minuten mitspielten, sagt einiges über die Verwurzelung der Veranstaltung in der Region aus.

Foto: Tom Rottenberg

Nur beantwortet es noch immer nicht die Frage nach den "fehlenden" Läuferinnen und Läufern. Auch Long Covid und die aktuell steigenden Infektionszahlen greifen zu kurz. Im Gegensatz zum Hinweis auf Vergesslichkeit und Planungsgewohnheiten vieler Menschen: Als die Traunsee-Veranstalter vor einigen Wochen die Mail mit den Startnummernabhol- und anderen Ablaufdetails ausschickten, gab es großes, sehr großes "Öha": Ein zweimal verschobener Starttermin verschwindet leicht vom Radar. Sprich: wird vergessen – und passt dann so kurzfristig oft nimmer in den Familiensommerplan.

Was für die Traunsee-Truppe spricht: "Wir schauen uns das an: Wir laufen 2023 ja auch wieder."

Foto: Tom Rottenberg

Sollten Sie jetzt überlegen, am 24. Juni 2023 von Ebensee aus einen Halbmarathon (oder ab Traunkirchen einen "Genusslauf") in den Sonnenuntergang zu machen, lassen Sie mich kurz mansplainen: Gönnen Sie sich die Anreise zum Start mit dem Schiff.

Wenn das Wetter nur annähernd so ist wie heuer, wird sie die Sonne am Boot zwar ein bisserl vorgrillen (was vor einem Lauf jetzt nicht wirklich schlau ist), aber der Ausblick macht das mehr als wett.

Ja eh: Natürlich können Sie auch sonst jederzeit Schifferl fahren – aber es ist halt was anderes. (Das gilt im Übrigen überall. Beim Dreiländermarathon ebenso wie beim Wolfgangseelauf.)

Foto: Tom Rottenberg

Aber egal, wie Sie zum Start kommen: Freuen Sie sich auf einen Bewerb, bei dem Sie die Mischung aus Stimmung auf und neben der Strecke und die Blicke auf und in ein paar schönste Landschaften der Welt ziemlich sicher davon ablenken werden, dass dieser Lauf ein bisserl mehr kann – also fordert –, als es das Streckenprofil suggeriert: Die paar "Schupfer" (einmal 30, aber insgesamt lediglich 70 Höhenmeter) sind nämlich "gfernst" angelegt.

Weil man sie oft gar nicht wirklich sieht – und sie genau deshalb meist erst spürt, wenn man knapp davor ist, sich abzuschießen.

Foto: Tom Rottenberg

In der Früh, halbwegs ausgeschlafen und bevor die kraftfressende Hitze eines drückend-heißen Sommertages ihr "Tagwerk" getan hat, wäre das auch ein Thema. Ein bisserl halt. Aber ein Abendwettkampf ist dann eben was anderes: Den Sommertag davor denkt kaum wer mit.

Und da ist noch etwas: Bei abendlichen oder After-Work-Trainingssessions fehlt dieser meistens ja schöne und befreiende kollektive Pulk-Druck, der entsteht, wenn man nicht nur in der Komfortzone herumjoggt. Genau dieser Druck, diese hochinfektiöse Wolke aus Aufregung und Ehrgeiz, macht aber den Unterschied zwischen Wett- und sonstigen Läufen aus.

Foto: Tom Rottenberg

Ja, auch wenn man außer sich selbst heute nichts und niemanden besiegen will. Niemandem etwas beweisen muss. Sich diesem Gefühl, dem Sog des Wettkampfes, hinzugeben, kann wunderschön sein. Es ist aber auch gefährlich: Weil wie stets auch hier die Dosis das Gift macht – und der Grat zwischen individuellem Triumph und Totalabsturz schmal ist.

Erst recht, wenn das Rundherum ablenkt: die Landschaft. Die Stimmung. Das Publikum. Und soooo heiß wie am Nachmittag prügelt die Sonne jetzt eh nimmer runter. Oder?

Was da hilft? Routine. Manchmal die eines oder einer anderen.

Foto: Tom Rottenberg

Das war, vermutlich haben Sie es angesichts der Bilder eh schon vermutet, auch mein, unser Konzept dieses Samstages. Ein Wochenendfamilienausflug an den Traunsee – mit ein bisserl strategischer Laufbegleitung.

Dass das funktionierte, war für mich an diesem Traumtag bei diesem Traumlauf in dieser Traumkulisse halt das persönliche Tüpfelchen über dem i-Tüpfelchen. Dabei dann ein bissi verflucht, vielleicht (okay: ziemlich sicher) kurz gehasst und angemotzt zu werden, gehört dazu. Das halte ich aus.

Foto: Tom Rottenberg

Dann das Strahlen keine Minute nach dem letzten Fluch vor der Ziellinie. Das Erkennen, wie rasch man wieder bei Kräften ist. Der ungläubige Stolz in den Augen, beim Realisieren, dass gerade das "Nicht" für immer aus "Das kann ich nicht" gestrichen wurde. (Und eine satt verbesserte "personal best" am Halbmarathon): All das steht dafür.

Auch wenn ich selbst nur mehr daneben stehe: Meine eigene PB werde ich in diesem Leben wohl nimmer knacken. Und Vornewegpacen hat ein absehbares Ablaufdatum. Das ist richtig so. Ganz normal. Und auch wenn es manchmal ein bissi wehtut: Es ist schön.

Am Traunsee ganz besonders – wenn alles, wirklich alles passt.

Foto: Tom Rottenberg

Epilog: Am Heimweg trafen wir dann noch den Sieger.

Lemawork Ketema (Mitte) war schon am Weg zur Siegerehrung und ein bisserl zerknirscht. Er hatte sein Ziel, diesen Halbmarathon in 63 Minuten zu laufen, um drei Minuten verfehlt: Ein Abendlauf ist eben anders. Die Hitze des Tages habe auch ihm, dem Olympiateilnehmer und doppelten Wings-for-Life-Sieger, am zweiten, "welligen" Teil der Strecke zugesetzt, sagte Lema – und verschwieg glatt, dass er den alten Streckenrekord mit seinen 1:06:30 um satte vier Minuten unterboten hatte. Bei den Frauen gewann die Deutsche Hannah Sassnink in 1:28:21.

Davon sind wir natürlich Lichtjahre entfernt. Doch darum geht es nicht.

Es geht um das Gefühl, das so ein Lauf auslöst und zurücklässt. Um den Stolz und das Lachen, wenn man zurückdenkt.

Und um die Vorfreude, nächstes Jahr wieder in den Sonnenuntergang zu laufen. (Thomas Rottenberg, 21.6.2022)

Anmerkung im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Zwei Startplätze und ein Zimmer im Hotel Goldener Brunnen waren eine Einladung von Veranstalter und Tourismusverband Traunsee-Almtal, die beiden anderen Startplätze sowie das zweite Zimmer wurden selbst bezahlt.


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