Schriftstellerin Anna Baar (49), im damaligen Jugoslawien geboren, wuchs zweisprachig in Wien und Klagenfurt auf.

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Was es bedeuten konnte, seine frühe Jugend in dieser Stadt zu verbringen, haben Sie schon gelesen. Ich will die Geschichte fortführen. Wir schulden den Jungen heute inzwischen ein weiteres Kapitel.

Die Mutter ermahnte uns immer zum Leisetreten. Die Vermieterin, sie wohnte unter uns, konnte es nicht leiden, wenn der Parkettboden knarrte. Und wenn sie die Mutter anhielt, um ihr damit zu drohen, uns aus dem Haus zu schmeißen, schickte die uns zum Greißler, um Bonbonieren zu kaufen. Damit mussten wir vor der Hausherrin strammstehen und um Vergebung bitten.

Ich weiß nicht, was daran wahr ist, aber ich könnte schwören, es so erlebt zu haben, sooft ich bei Ingeborg Bachmann von Kindern in Strümpfen lese, darauf abgerichtet, die Ruhe des Hausherrn zu wahren. Und was es heißen mag, in dieser Stadt aufzuwachsen, im Henselstraßenland, das ich in ihren Worten, durch ihre Augen gesehen, als mein eigenes erkannte und wieder und wieder erkenne, wenn ich an schönen Tagen den Umweg ins Stadtzentrum nehme, vorbei am einstigen Zoo, den zwei gefangenen Bären meiner Erinnerung, vorbei an den Gärten mit den Ribisel-Sträuchern, Rosen und alten Apfelbäumen, und am kleinen Teich, der heute selten so zufriert, dass man darauf Schlittschuh laufen oder bezeugen könnte, wie Bomben sein Eis hochjagen.

Auch in den geräumigen, zentralbeheizten Häusern in unmittelbarer Nähe, auch sie stehen verewigt in Ingeborg Bachmanns Erzählung und stehen in Wahrheit vergänglich, spielten die Kinder in Strümpfen. Auch für sie konnte alles mit tödlichen Schüssen enden. Die Schilderung einer Jugend in einer Stadt wie dieser lässt sich tausendfach fortführen, und jedes Kapitel läuft ins Unendliche weiter: Geschichten vom weißen Tod, von selbstausgehobenen Kellern, von Häusern, in denen die Furcht vor Entäußerung nistet, Kopfläusen, Tränen, Tadel. Immer sind es die Kinder, die sich zu Tode fürchten, da ihre Worte nicht gelten. Und wenn es nun an mir ist, die Fäden aufzunehmen, sei von jenen berichtet, die man zum Schweigen brachte in der Schule des Anstands. Einmal meldeten welche, der Nachbar, ein hohes Tier, recke den nackten Hintern aus seinem Wohnzimmerfenster. Die Polizei fand heraus, wer sie gerufen hatte. Dann mussten die Übeltäter den angeblich Bloßgestellten um Entschuldigung bitten und zu Protokoll geben, die Sache erfunden zu haben. Die Frage war nicht, was stimmte, sondern wer etwas sagte.

Kindsein hieß mitunter, am Baum der Erkenntnis zu rütteln, obwohl man mit jedem Mal, da seine Fünffingerfrüchte auf einen niedergingen, ein Stück weit vom Glauben abfiel. Die Wahrheit gehörte dem, der am längeren Ast saß. So lernten die Kleinen das Schummeln und dass im Schweigen der Großen gefährliche Dinge hausen, nach denen man besser nicht fragte. Es hieß, sie verrückten einen, und so, dass man nachts wieder einnässt. Wie der scheue Bub, den sie Bettbrunzer nannten. Hier soll er Felix heißen.

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Sie kennen den Zustand der Welt, sind im Besitz der Wahrheit, haben genug davon, jedenfalls so viel, wie Sie zum Leben brauchen. Man ist nicht zum ersten Mal in Zeiten wie diesen versammelt. Daran sei erinnert, weil manche die Ära des europäischen Friedens mit bald achtzig Jahren beziffern. Es ist fast ein Sommer wie damals, als man die Bombeneinschläge, das Pistolengeknatter, die Schreie der Getroffenen aus nächster Nähe hörte. In dieser Wettmanege, wo alles als erdacht gilt, und sei es der Wirklichkeit eins zu eins abgekupfert, gab’s den Theaterdonner zum heiteren Prosahimmel sogar erste Reihe fußfrei, gratis zum Knalleffekt auf der Lesebühne. Es war aber nur ein Text, der das Publikum damals in Panik versetzte. Der ist mir eingefallen, als ich neulich wieder an die Partys dachte, von denen Felix erzählt hat, als er längst nicht mehr Kind war, jedenfalls andeutungsweise.

Ich war weder da noch dort an jenem Schicksalstag, als Brandsätze detonierten, während hier einer den Text las, hatte mich zwei Wochen vorher durch die Matura gewurstelt und die Führerscheinprüfung, und auf der Wachestation Klagenfurt angegeben, als der Verkehrsbeamte nach meinem Geburtsort fragte. Acht Tage vor dem Zerfall des Landes meiner anderen Herkunft war ich Augenzeugin bei einem Aufmarsch geworden. Jörg-Haider-Sympathisanten, aus allen Winkeln des Landes in Sonderzügen und -bussen nach Klagenfurt angereist, bezeugten dem gestürzten Landeshauptmann von Kärnten, er war mit einem Satz auf der noch dampfenden Jauche des Dritten Reichs ausgerutscht, eine saubere Weste. Der frenetische Jubel nach seiner Märtyrerrede mengte sich als Nachhall ins Papiergeraschel und ins Jagdbomberdröhnen – der Soundtrack zum großen Showdown meiner Kärntner Jugend und unser aller Unschuld. Ein europäisches Land zerfiel in einem Gemetzel, das den Geschichtenbetrieb scheinbar erst interessierte, als ein großer Dichter Lageberichterstattern gleichsam den Krieg erklärte und also Fans und Feinde aus der Reserve lockte, die aus dem Hinterhalt aus selbstgezimmerter Meinung gefahrlos mitballern wollten.

Was sie beschäftigt hat, als der echte Krieg tobte? Die verstümmelten Sätze eines Säuglingsschinders, der es nur auf dem Papier tat und in den Fantasien einiger Spiegelfechter. Die Fronten? Dort Kunstbanausen als rechte Totengräber schriftstellerischer Freiheit, da die Kunstversteher, die sich Befindlichkeiten professionell versagten. Nachdem die Jury dem Text den Landespreis zuerkannte, mit der Begründung, er sei formal gesehen einer der besten, man unterscheide bitte zwischen Fiktion und Wahrheit, wurde im Kärntner Landtag munter weiterverhandelt. Der Klage der FPÖ-Landeskultursprecherin über den Verstoß gegen das Landesgesetz über die guten Sitten ist entgegenzuhalten: Die Würdigung passte perfekt auf die Landessitten: Die größte preisgekrönte Schweinerei, wie sie den Text benannte, waren die Verbrechen des echten Kinderschänders, der, obwohl amtsbekannt, etliche Preise bekam: den Landesorden in Gold, die Goldene Stadtmedaille, und, Jahre nach dem Skandal um die Bachmannpreislesung, den Ring des Paracelsus.

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Ich spiele nicht mehr in Socken. Was gesagt sein muss, weil wir sonst krepieren an diesem verfluchten Schweigen, das nicht nur mir im Hals steckt, muss laut und deutlich gesagt sein. Sie können sich meinetwegen gleich die Ohren zuhalten, aber das wird Sie nicht retten, sondern mitschuldig machen.

In jenem denkwürdigen Sommer trauerten wir Kinder um einen Weggefährten. Felix war, wie es hieß, am goldenen Schuss gestorben. Ich sage: Es war Mord – verübt von Agenten des Heils, das man von früher kannte, und denen, die zu- oder wegsahen, Vertretern der Nachkriegsgesellschaft, deren Entnazifizierung nur zum Rückzug der Gräuel ins Hinterzimmer geführt hat, wo das Virus Verbrechen, wie Ingeborg Bachmann es nannte, sein Zerstörungswerk heimlich fortsetzen konnte.

Man weiß von fünfhundert Opfern der Kärntner Jugendwohlfahrt. Nicht eingerechnet jene, die sie nicht überlebten, vernichtet von Autoritäten, die Schutz und Hilfe versprachen – nicht nur in Landesheimen. Die Heilpädagogikabteilung des Landeskrankenhauses, deren ärztlicher Leiter ein gewisser Franz Wurst war: eine Seelenmordanstalt. Das Gemunkel über seine Behandlungsmethoden, als Zuwendungstherapie hat er sie später bezeichnet – sie diene der Überwindung abnormer Berührungsängste –, war ein Tuscheln, Witzeln. Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leut’, hat es immer geheißen, selbst dann nicht, wenn auf der Hand liegt, dass nur das Ansehen sie kleidet.

Wurst wurde Gott genannt von Leuten aus seinem Zirkel. Und Gott hatte Komplizen: Pflegerinnen, die Kinder nachts aus den Betten holten und durch schummrige Gänge zum Hinterausgang brachten. Oder die Unbekannten in schweren Limousinen, die dort warteten, die um den Schlaf Gebrachten zu Partys mitzunehmen, man hat sie dort vergewaltigt. Oder Ärzte und Schwestern anderer Krankenstationen, die nicht fragten, woher die Quetschungen, Blutergüsse, Striemen und Analrisse stammten, mit denen man die Kinder aus der Hölle Gottes zur Wundversorgung brachte. Oder Polizisten, die die in Panik Getürmten aufgriffen und sofort zurück in die Hölle brachten. Auch in den höchsten Kreisen hatte Gott Helfershelfer. Es gab Hilfegesuche, Briefe an Leopold Wagner, den einstigen Landeshauptmann. Doch statt einer Untersuchung der angezeigten Verbrechen wurden die Verfasser der Verleumdung beschuldigt. Für Franz Wurst gab es Lorbeeren.

Bestimmt hätte er posthum eine Gasse erhalten, wie andere große Ärzte dieser ehrenwerten Stadt, damit hier alles genannt ist, ein für allemal, um es einmal mehr mit Ingeborg Bachmann zu sagen, hätte ihn sein Ziehsohn, auch er eines seiner Opfer, nach dem tödlichen Unfall seiner Ehefrau Hilde nicht als Anstifter zu dem Mord angegeben, den er als Treppensturz tarnte. Und weil, allerdings erst vor kurzem, andere Bubenstücke Wursts in die Schlagzeilen kamen, erwägt die Stadt Klagenfurt, die Leopold-Wagner-Arena nächstens umzubenennen, was bemerkenswert wäre, zumal hier heute noch Straßen nach Naziverbrechern benannt sind. Doktor Franz Palla zum Beispiel, der mehrere Hundert Menschen während der NS-Zeit zwangsweise sterilisierte. Die Gasse seines Namens führt vom Landesspital, an dem er und Franz Wurst ihre Verbrechen verübten, direkt zum Stadttheater. Und, so sehr es mich graust, ich brauche diese Gasse, um endlich wieder die Kurve zum Bachmannpreis zu kriegen.

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Der erste Gewinnertext hieß Erster Entwurf zum Beginn einer sehr langen Erzählung. Ihn las 1977 ein gewisser Gert Jonke, der in der Pallagasse, genauer in Haus Nummer 2, Kindheit und Jugend verbracht hat, keine zehn Gehminuten entfernt von der Henselstraße. Ob er in Strümpfen spielte, ist nicht überliefert, aber die Schule des Anstands war ihm bestimmt geläufig. Belegt ist: Er war ein Dichter, wie man ihn selbst in diesen mit Dichtern gesegneten Breiten sicher kein zweites Mal findet. Der Stadtsenat ließ sich dennoch nicht dazu bewegen, die schändlich beschilderte Gasse endlich nach ihm zu benennen. Stattdessen will man Gert Jonke demnächst einen Holzsteg über den Kanal am östlichen Stadtrand widmen – in der Tradition, Dichter, Bildhauer, Maler nach dem Tod auszusiedeln in Naherholungsgebiete oder Außenbezirke. Grönland, poste restante, nennt die Hauptfigur im Entwurf zum Beginn einer sehr langen Erzählung wohlweislich ihre Anschrift.

Ingeborg Bachmann, die es in der Stadt ihrer Jugend zu einem Forstweg brachte, der aber nicht zum See führt, prägte den Satz von der Wahrheit. Ich nehme den Satz zurück. Er taugt, aus dem großen Ganzen ihrer Gedanken gerissen, nicht einmal mehr als Klospruch. Zu viele, die ihn jetzt zur Verfechtung von vermeintlichem Wissen missbrauchen, das sie zusammensammeln, indem sie nicht nach Wahrheit, sondern Bestätigung ihrer Vermutungen suchen. Liebe Ingeborg Bachmann, wer wollte von Wahrheit reden, wo nicht einmal Worte taugen, sie zu beglaubigen, geschweige denn zu besiegeln? Fakten werden ersetzt durch wohlfeile Alternativen. Wo etwas Zumutung ist, nennt man es heute Lüge. Und um sich dabei moralisch vermeintlich ins Recht zu setzen, nennen sich Nazis Juden und schreien Freiheit und meinen ausschließlich ihre eigene. Sie kapern die guten Worte, das Böse schmackhaft zu machen: Heimat, Heil, jetzt auch Frieden und gerne auch Menschenrechte … Erinnern Sie sich noch, wie sich Jörg Haider selig bei Waffen-SS-Veteranen für ihren Anstand bedankte?

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Worte sind Hurenkinder. Sie wechseln gern die Seite. Die Musterschüler des Anstands buhlen um Haltungsnoten. Die Knechtschaft der freien Schreiber ist selbst auferlegt, ein Kokon aus Gestammel, gesponnen aus der Furcht, ins Abseits zu geraten oder ins Gehege verfehdeter Territorialherren, die meinen, den Stoff zu besitzen, aus dem Geschichten gemacht sind. Moral als Machtinstrument ist wirksamer als Gesetze. Wo Mitsprache Sünde ist, wird das Statement zur Tugend. Die Pose ist an die Stelle der Poesie getreten. Man belauert einander – wer gewinnt das Spiel Tu Gutes und rede darüber? Wer schreibt im Krieg noch Gedichte oder trägt zu Markte, was andere erleiden? Man posiert um die Wette, statt den Unerhörten, um die man sich angeblich sorgt, eine Stimme zu geben, und verkauft das als Rücksicht oder Größe im Denken. Ich nenne es Opportunismus, unterlassene Hilfe. Oder die feige Unart, sich aus dem Fenster zu lehnen, wenn unten die eigenen Leute mit einem Sprungtuch warten. Wer nicht durch Werke auffällt, sondern vor allem dadurch, sich aufzupudeln, aber aus der Affäre zu stehlen, wo es unbequem wird, Teilnahmen abzusagen, auch wo niemand daran dachte, ihn überhaupt einzuladen, ist ein Maulheld und Heuchler.

Die Schmähung des Mitgefühls tarnt sich auch als Vernunft. Wie damals, als es hier nur um die Frage ging, ob man der Zuhörerschaft so etwas antun dürfe, während ein Autor die Blicke auf seinen Ich-Erzähler und ein paar Säuglinge lenkte und über den Schlusspunkt hinaus faktisch das Publikum fickte.

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Man kann Tabus auch so brechen, dass sich das Schweigen erhärtet, indem man keinen Raum lässt für die wahre Empfindung, wie die großen Geschichten von Mördern und Sadisten und, ja, auch Kinderschändern, die nicht zum Ekel zwingen, sondern zu Einsicht und Mitleid.

Der Schreiber ist aus dem Schneider, die Freiheit der Kunst sei uns heilig. Wo Fiktion etwas aufspürt, das irgend möglich scheint, ist der Leser gefordert – und nicht, sie zu boykottieren, sondern ins Wahre zu bringen. Wer das nicht leisten will, sabotiert ihre Wirkmacht. Die Jugend in Städten wie dieser bleibt dann nichts als ein Märchen von Ribiselsträuchern, Rosen, goldenen Schüssen und einer hellhörig Tauben, die leider erst entlarvt war, als sie den Lärm beklagte, während wir tagelang fiebernd das Bett hüten mussten.

Vielleicht ist alles so, wie Ingeborg Bachmann sagte: eine Frage der Sprache. Ihre Prosa wurde von Zeitgenossen als pathetisch, geschwätzig und schwer verständlich verrissen. Wenngleich aus Papier kein Blut fließt: Gert Jonke lag absolut richtig, als er in seiner Rede zu diesem Wettbewerb sagte, Ingeborg Bachmann sei nicht am Schreiben gescheitert, sondern an diesem Betrieb, der sie umgebracht habe, um sie kurz darauf in den Himmel zu heben.

Im Sog eines Fortschrittsdenkens, dessen Wahrheitsbegriff sich nach Marktlogik richtet, hat der Geschichtenbetrieb die Sprache zur Ader gelassen. Es scheint heute fast obszön, schreibend über die Ufer des Alltagsgeplappers zu treten. Man schreibt lieber nach der Rede als nach der Schrift zu reden, um nicht als bemüht zu gelten oder als rückwärtsgerichtet. Dabei gilt der Jugendjargon manchen als Nonplusultra. Die Disziplinierung des Autors, von Gert Jonke hier vor bald zwanzig Jahren besprochen, dient nicht der Literatur, jedenfalls nicht als Dichtung, sondern dem Marktgerechten. So bilden sich vor den Geschäften willkommene Warteschlangen. Aber wenn man dran ist, gibt es wenig zu kaufen zwischen flotten Plots, derber Provokation und Betroffenheitsmilde: Weißbrotliteratur ohne besonderen Nährwert. Sie taugt nicht als Trost noch Einwand gegen den tödlichen Frost neuliberaler Coolness. Nein, sie reproduziert ihn, spricht ihn sogar heilig durch die Beförderung in den Tempel der Künste.

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Genau wie ein Schulsystem, das Bildung mit konkurrenzfähigem Unternehmertum gleichsetzt und die Poesie aus dem Lehrplan radiert – und mit ihr Fühlen und Denken. Da wird mobilgemacht für den brutalen Erwerbskampf, an dem die Träumer, Zappler oder Andersbegabten mehrheitlich scheitern müssen. Man wird sie Versager nennen, für dumm und verrückt erklären, wie den einen Kleinen, der, um nicht ins Bett zu machen, nach dem Mittagessen nichts mehr zu trinken kriegte, aber eine Tracht Prügel, als die Pflegerin sah, wie er sich eines Nachts über die Klomuschel beugte.

Wir hätten die Kunst, meinte Nietzsche, um nicht zugrunde zu gehen an der schrecklichen Wahrheit. Ich will es anders sagen: Vielleicht bleibt uns nur die Dichtung, zur Wahrheit vorzudringen. Es bräuchte dafür allerdings eine Sprache der Hoffnung. Nennen Sie mich naiv, aber ich glaube stur: Literatur kann retten. Sie gibt den Sprachlosen Worte und schafft Gegenentwürfe zum Normalisierungsterror einer Leistungsgesellschaft, die alles wirtschaftskonform will. Diese Gesellschaft hat Felix auf dem Gewissen und tausende Schicksalsgefährten. Und weil auch ich weder tough war noch wetteifrig oder begabt in angeblich wichtigen Dingen, wäre ich an ihr beinahe selbst gescheitert.

Ich fordere Sie auf, den Kindern Geschichten zu geben, aus denen sie Lehren ziehen und sich aufrichten können, Geschichten, die sie ermutigen, das Leben anders zu denken, Geschichten, die sie warnen, auch vor den Wurstkomplizen, die immer noch unter uns sind. Die Kinder haben das Recht, ihre Namen zu wissen! Immer noch dampft die Jauche unter betretenem Schweigen. Daher, meine Damen und Herren auf den Ehrenplätzen, nutzen Sie Ihren Einfluss, der Jugend in dieser Stadt endlich gerecht zu werden! Niemand soll ruhig schlafen, solange Jahr für Jahr tausende Junge flüchten, weil sie den Mief nicht ertragen.

Einstweilen bitte ich, den Kindern auszurichten: Schreibt die Geschichte weiter! Gut in der Schule zu sein ist nicht der einzige Weg, etwas aus sich zu machen. Die größere Wahrheit aber müsst ihr euch selbst erschließen. Hört nicht auf Besserwisser, die euch Wege weisen, ohne euch zuvor nach euren Zielen zu fragen! Gebt die Schwarzmaler preis, die gegen die Buntheit reden! Seid sicher: An ihrer Sprache werdet ihr die erkennen, die es gut mit euch meinen.

Noch ein paar Worte an jene, die hier in den Ring steigen werden: Spielen Sie nicht in Socken! Es ist ein Elefant in dieser Lesemanege. Den sollten Sie unerschrocken bei den Stoßzähnen packen. Und denken Sie daran: Viele der Allergrößten hätten Bewerbe wie diesen nie im Leben gewonnen, wahrscheinlich nicht einmal die Bachmann. (Anna Baar, 23.6.2022)