Wirklich ins Hintertreffen dürfte Emmanuel Macron (Mitte) in der EU nicht geraten. Fest steht aber, dass er für seine Ziele wird kämpfen müssen.

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Es war eine Schlappe von historischer Dimension, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei der zweiten Runde der Parlamentswahl erlitt. Sein Wahlbündnis Ensemble verliert die absolute Mehrheit, muss sich künftig Stimmen teuer "erkaufen", will es hochgesteckte Vorhaben des wiedergewählten Präsidenten durchbringen. Während auf der Seite der Sieger, von rechts Marine Le Pen und von links Jean-Luc Mélenchon, von einem in Hinkunft "nationaleren Parlament" und einer "totalen Niederlage" für Macron die Rede ist, vergleicht der Konservative Jean-François Copé das polarisierte Land gar mit der Weimarer Republik. Und Élisabeth Borne, Macrons Premierministerin, musste noch am Wahlabend eingestehen: "Die Lage ist ein Risiko für unser Land."

Frage: Wie kann Macron nun handlungsfähig bleiben?

Antwort: Nur mittels Kompromissen. Zuletzt wurde Frankreich von 1997 bis 2002 von einer sogenannten Cohabitation regiert, einer Art "Polit-WG", in der dem konservativen Präsidenten Jacques Chirac ein sozialistischer Premier namens Lionel Jospin gegenüberstand. Koalitionen genießen in Frankreich keinen guten Ruf. Charles de Gaulle ließ die Wahlordnung 1958 ganz auf einen starken Präsidenten zuschneiden. Um Chaos zu verhindern, wird Macron nun über seinen Schatten springen müssen: Entweder streckt er die Hand energischer als bisher zu den moderat-rechten Républicains aus, oder er sucht sich die Stimmen für seine Gesetzesvorhaben im Parlament frei, mal rechts, mal links. Dem Sozialisten François Mitterrand ist dies Ende der 1980er-Jahre als bisher einzigem Präsidenten gelungen. Wichtige, in dieser Zeit ausverhandelte Sozialgesetze sind bis heute in Kraft. Heute steht Macron mit Le Pen und Mélenchon aber eine Opposition gegenüber, die so gar nicht auf Konsens gebürstet ist.

Frage: Um welche Projekte geht es denn, für die sich Macron künftig Gleichgesinnte suchen muss?

Antwort: Fachleute gehen davon aus, dass die Reformpolitik, die sich der Präsident gerne auf die Fahnen schreibt, künftig noch langsamer vorangehen wird als bisher. Angesichts der rasant steigenden Preise, der Energiekrise, des siechen Schulsystems und des Streits um das Pensionsantrittsalter erhoffen sich viele schnelle Antworten. Die neuen Verhältnisse könnten schon nächste Woche einem ersten Stresstest unterzogen werden. Da will Macrons Fraktion ein Gesetz durchbringen, das die Lebenshaltungskosten im Land im Zaum halten soll. Im Sommer könnten Abstimmungen über Fragen erneuerbarer Energie hingegen Mélenchons Erfolgswelle brechen lassen, weil man einander im Linksblock in Sachen Atomkraft alles andere als grün ist.

Frage: Was bedeuten die Veränderungen in Paris für die EU?

Antwort: Jedenfalls einen Rückschlag. Seit Jahren verstand sich Macron als treibende Kraft zur weiteren Integration, für Reformen zur Stärkung der Union – wenn auch bisher mit mäßigem Erfolg. Nach dem Brexit und dem Abgang Angela Merkels kam ihm dabei im Kreis der Regierungschefs eine besondere Rolle zu. Ohne Druck aus Paris hätte es 2020 etwa den 750 Milliarden Euro schweren Corona-Wiederaufbauplan so nicht gegeben. Macron will die EU zur globalen Macht ausbauen, Militärunion, als Gegengewicht zu den USA, wird sich aber mehr um Politik in Paris sorgen.

Frage: Könnte sich Frankreich nach den Erfolgen Le Pens und Mélenchons gegen die EU wenden?

Antwort: Nein, aber der Elan dürfte nachlassen. Gemäß französischer Verfassung verfügt der Präsident über große Vollmachten in Sachen Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik. Aber es ist klar, dass Le Pen wie auch Mélenchon alles daransetzen werden, Macron in die Parade zu fahren. Neuwahlen in einem Jahr sind nicht ausgeschlossen.

Frage: Wie werden die EU-Partner damit umgehen?

Antwort: Macron galt schon bisher als etwas überambitioniert, sprich arrogant. Dass er geschwächt ist, wird manche EU-Partner freuen, allen voran Ungarn und Polen, die von Paris wegen Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit stets heftig kritisiert wurden. Zwei Beispiele: Seit Jänner hat Frankreich den EU-Vorsitz inne und hat viel Ehrgeiz, große ungelöste Fragen wie das Migrationspaket, die Bankenunion oder die EU-weite Mindeststeuer für Konzerne umzusetzen. Das ist zuletzt gescheitert. Die wechselseitigen Blockaden werden eher zunehmen.

Frage: Was heißt das konkret für die EU-Politik gegenüber der Ukraine?

Antwort: Macron war, was den Kandidatenstatus für Kiew betrifft, lange Zeit skeptisch. Frankreich bremst auch in den Erweiterungsprozessen auf dem Westbalkan und bei der Türkei, will vor der Aufnahme neuer Mitglieder EU-interne Reformen, mehr Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit. Was die Ukraine betrifft, hat sich der Präsident aber mit Olaf Scholz und Mario Draghi, den anderen EU-Großmächten, darauf festgelegt, dass der Kandidatenstatus wie von der EU-Kommission vorgeschlagen beschlossen wird. Aber das ist nur Symbolpolitik. Entscheidend wird sein, wie die EU sich gegenüber Russland verhält, wie sie die Ukraine militärisch unterstützt und ob in einigen Wochen und Monaten milliardenschwere Wiederaufbauhilfe für die Ukrainer ausfallen werden. Dabei kommt Macron, der mit Wladimir Putin verhandelt, eine Schlüsselrolle zu. Auch da werden ihm Le Pen und Mélenchon das Leben mit der Parole "Frankreich zuerst!" schwermachen. (Florian Niederndorfer, Thomas Mayer aus Brüssel, 21.6.2022)