Martin Rolshausen wundert sich in seinem Gastkommentar, dass in der Diskussion über die StVO-Novelle Fußgeherinnen und Fußgeher keine Rolle zu spielen scheinen.

Von einem "Kulturkampf" hat Volker Plass vor einigen Tagen in seinem Gastkommentar ("Wenn Radfahrer rotsehen") geschrieben. Es ging um die Novelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) und darum, dass die Autolobby auch in diesem Gesetzgebungsverfahren jeden Meter Fahrbahn und jedes Privileg für Kraftfahrzeuge im Verkehrsraum verbissen verteidigt.

Die Straßenverkehrsordnung wird novelliert. Nun wird debattiert: Wem soll was im öffentlichen Verkehr erlaubt werden? Und was besser nicht?
Foto: Imago Images

Es gibt viele gute Gründe, die Autolobby auszubremsen. Weniger Abgase sind gut fürs Klima und, ebenso wie weniger Motorenlärm, gut für die Lebensqualität. Verfolgt man die Debatte um die neuen Regelungen im Straßenverkehr, kann man allerdings den Eindruck gewinnen, dass die Frontlinie dieses Kulturkampfs vor allem zwischen Autofahrern und Radfahrern verläuft. Der schwächsten Gruppe im Verkehrsraum droht Gefahr, unter die Räder zu kommen: Fußgängerinnen und Fußgänger, also Menschen, die nicht durch Blech und Airbags geschützt und auch nicht mit Helm unterwegs sind.

Wenn die geänderte StVO jenen, die mit dem Rad fahren, bald erlaubt, auch bei roter Ampel rechts abzubiegen, ist das für sie zwar sicher ein Fortschritt, es entsteht aber auch eine neue Gefahrenquelle für jene, die zu Fuß gehen. Nicht, weil, wie Plass richtig feststellt, "Radfahrer per se rücksichtslose Gesetzesbrecher wären". Sondern, weil es so ist, wie es Plass beschreibt: "Radfahrer betreiben ihr Fahrzeug nicht mit einem aus fossiler Energie gespeisten Motor, sondern mit höchstpersönlicher Körperkraft. Jeder unnötige Bremsvorgang ist eine Vernichtung dieser bereits vollbrachten Arbeitsleistung." Es sei daher kein Wunder, "dass Radfahrer sehr versucht sind, diese Energievernichtung zu vermeiden".

"Es sind immer Einzelne, die unachtsam sind, die Nerven verlieren, einen schlechten Tag oder einfach eine charakterliche Schwäche haben."

Es werden nicht alle Radfahrer mit viel Kraft im Pedal abbiegen und dabei den ein oder anderen Fußgänger übersehen. Aber es sind ja auch nicht die Radfahrer im Allgemeinen, die Fußgeher gefährden, weil sie Regeln – etwa in Fußgängerzonen – missachten oder großzügig auslegen. Es sind auch nicht die Radfahrer in ihrer Gesamtheit, die, wenn die Ampel am Radweg Rot zeigt, mal eben über den Fußweg abkürzen, um nicht an Schwung zu verlieren.

Es sind nicht alle Radfahrer, die Radwege, die klar markiert nur in eine Richtung führen, in die falsche Richtung befahren und auf den Gehweg ausweichen, wenn ihnen andere Radfahrer entgegenkommen. So wie auch der Großteil der Menschen, die hinter dem Steuer eines Autos sitzen, keine rücksichtslosen Verkehrsteilnehmer sind. Es sind immer Einzelne, die unachtsam sind, die Nerven verlieren, einen schlechten Tag oder einfach eine charakterliche Schwäche haben.

Gute Ansätze

Ziel der StVO-Novelle ist nun die "Förderung der sanften Mobilität sowie die Steigerung der Verkehrssicherheit speziell für Kinder und Jugendliche" und vor allem die Stärkung des Fahrrad- und des Fußverkehrs. Dazu gibt es im Entwurf gute Ansätze. Das Vorbeifahren an einer Straßenbahn, die in der Haltestelle steht, soll zum Beispiel nun zum Schutz der ein- und aussteigenden Fahrgäste verboten werden. Wenn die Türen der Bahn geschlossen sind und sich der Lenker vergewissert hat, dass keine Personen mehr auf der Straße sind, soll ein Vorbeifahren weiter möglich sein. Das deutet darauf hin, dass man hier nur die Autofahrer im Blick hat. Es muss aber auch für Radfahrer gelten: stehenbleiben oder absteigen und das Rad schieben, wenn eine Bahn in der Haltestelle steht. Auch bei der vieldiskutierten Rechtsabbiegerregelung an roten Ampeln müssen jene, die zu Fuß gehen, sich auf Grün für sich und Rot für Abbieger verlassen können, um die Fahrbahn sicher queren zu können – auch wenn das für die, die Rad fahren, Verschwendung von Muskelkraft bedeutet.

Was ist angemessen?

Und mit einer weiteren Gefahr für Fußgängerinnen und Fußgänger muss sich der Gesetzgeber noch intensiver beschäftigen als bisher: E-Roller. Da sie dort unter bestimmten Umständen geparkt werden dürfen, ist es menschlich, bis ans Ziel zu fahren, also auf den Gehsteig. Auf Gehwegen und in Fußgängerzonen haben die kleinen Flitzer aber nichts verloren. Ausnahmeregelungen, wie sie bisher möglich sind, sollten gestrichen werden, zumal Einschränkungen, wie dass die Geschwindigkeit dem Fußgängerverkehr anzupassen ist, sehr schwammig sind. Menschen neigen dazu, aus jeweils eigenem Blickwinkel sehr unterschiedlich einzuschätzen, was angemessen ist. Einige glauben offenbar sogar, dass für Fußgänger die Rolle als Hindernis bei einer Slalomfahrt ganz in Ordnung ist.

Dass wir vom Kulturkampf zu einer Kultur des rücksichtsvollen und auf die Schwächeren gerichteten Blicks im Straßenverkehr kommen, kann der Gesetzgeber nicht verordnen. Aber so heftig die große Lobby der Automobilisten und die zum Glück stärker werdende Interessenvertretung der Radfahrenden auch um jede Verschiebung der Prioritäten ringen: Vergesst die Fußgeherinnen und Fußgeher nicht! (Martin Rolshausen, 21.6.2022)